I, Erzählende Schriften 8, Die Toten schweigen, Seite 28

8. Die Toten schweigen
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— Schweizer Srauenheim. —
ungen umgeben sah und zu seinem großen Schmerz sein viel¬
Erna stimmte in ihr Lachen ein. Sie war bei ihrer
geliebtes Wien seinem „Schleier der Beatrice“ die wohlver¬
Tätigkeit zeitweise so froh und ihr Herz so leicht, daß sie sich
diente Aufnahme verweigerte. Und doch ist Schnitzler ein
selbst einen schmerzhaften Vorwurf daraus machte. Wie konnte
Wiener, er fußt wie alle Österreicher überhaupt dem Herzen und
sie trotz allen Erlebens noch diese Freude am Dasein haben!
Gemüte nach auf seinem gemütlichen Heimatboden. Doch sein
Aber es kamen auch noch Zeiten, in denen sie sich am liebsten
Temperament und sein Verstand schreiten mit dem Neuen
verborgen und jedes Menschengesicht vermieden hätte. Dann
fort und seine Werke schildern den Wiener, wie er ihn nicht
zwang sie nur die übernommene Pflicht zur Teilnahme und
liebt. Er hätte ein Virituose wienerischer Zierlichkeit und
half ihr über die Verdüsterung des Gemüts segensreich fort.
Zärtlichkeit sein können, doch dies hat ihm nicht genügt. Er
Als die Tante den guten Einfluß dieser Beschäftigung
fühlte sich höherer Aufgaben fähig und würdig.
bemerkte, war sie sehr damit einverstanden, nur als der nasse,
trübe Vorfrühling ein paar ansteckende Krankheiten brachte,
Hermann Bahr machte uns mit der feingemodelten No¬
velle Arthur Schnitzlers „Die Toten schweigen“ bekannt, ein
legte sie ihr Veto ein, und Erna wäre vielleicht auch sonst
modernes Fühlen im Renaissancestil.
nicht zu diesen Kranken gegangen. Sie scheute sich doch.
Gertrud verlor darüber kein Wort, sie war hier und dort und
An diesem literarischen Abend lernten wir zwei Jung¬
bei den gefährlichsten Fällen natürlich am meisten. Das
Österreicher kennen, Arthur Schnitzler, den Dichter der „Ana¬
Sterben war denn auch sehr gering und mancher schmerzvolle
tolischen Szenen; der „Lebendigen Stunden; des „Ruf des
Seufzer war um ihretwillen weniger zum Himmel gestiegen.
Lebens“. Und ebenso interessant war uns der Vortragende
selbst, Hermann Bahr, der Dramatiker und geistvolle Kritiker,
22. Kapitel.
der Verfasser des „Krampus
In Schloß Miltitz fing das Leben an wieder etwas heller
Ein Schaffender sprach über den
Schaffenden, ein Freund
zu werden. Die Besuche kamen häufiger und allerlei Ein¬
über den Gleichbeseelten.
H. C.
ladungen flogen ins Haus. Erna war wenig dafür zu haben.
„Heute muß ich in die Kleinkinderschule,“ sagte sie wohl,
oder: „Heute erwartet mich Frau Steinert, der muß ich vor¬
lesen.
„Wie ihr den Menschen das Haus stürmt,“ rief die Tante
Lebenswerte. 88—.
verdrießlich. „Die tun nur so, als ob sie das freut. Ueber¬
Roman von A. v. Auerswald.
haupt scheint mir doch, daß deine neue Beschäftigung sich mit
der Geselligkeit nicht vertragen wird, Erna.
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Nächdruck verboten.)
Frau von Miltitz wußte von den Wellblechs nur Gutes
agte Erna. „Laß mich meinen Weg gehen, Tantchen. Ich
und gab infolge dessen der Laune ihrer Nichte nach. Für
bin über das Alter hinaus, in dem man darin seine Be¬
diese aber begann ein neues Leben, und die Tätigkeit gab
riedigung findet.
ihr eine Spannkraft, die ihr bisher gefehlt hatte. Dabei
„Es greift aber an,“ meinte Frau von Miltitz. „Du hast
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Körper des Maunes, auf sein lebloses Gesicht, wie
als Dank entgegen. Man schied mit einem angenehnen
tdie
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dann nachher dieses Licht von der zurückbleibenden
(nach Vorträgen durchaus nicht selbstverständlichen)
Feuilleton.
Frau als ein tröstender Gesellschafter in ihrer furcht¬

Glücksgefühl. Und der ganze Abend war musikfrei,
baren Einsamkeit empfunden wird, und wie sie dann
rein und unvermischt literarisch; es war eine wahre
Der Bahr=Schnitzler=Abend. 29
doch, als sie sich zur Fluckt entschlossen, dieses freund¬
Wohltat.
liche Licht zum Erlöschen bringt — es ist, als ob noch¬
Ohne besondere rezitatorische Kunst, einfach=natür¬
8 Der zweite dee „Abende für Literatur und Kunst
mals die Nacht des Todes hereinbreche. Und voll
lich und lebendig las Bahr die Novelle Arthur
#ose sich diese Veranstaltungen des Lesezirkels Hottingen
stiller Größe der Schluß: wie sie stumm aus dem
Schnitzlers vor. Ihr Inhalt: Eine tragisch endende
jetzt vohnehm uennen, brachte am 9. November Hermann
Zimmer schreitet, vom richtenden Blick des Gatten
Praterfahrt einer Verheirateten mit ihrem Liebhaber
Bahr auf die zimmermäßig ausgestaltete, mit einem

der Wagen geht in die Brüche, er bleibt tot liegen,
gefolgt, innerlich beruhigt und gefaßt allem gegenüber,
Beethovenbild und einem schlechtgefüllten Bücherkasten
sie ist unverletzt. Es ist dunkle Nacht. Der Kutscher
was nun ihrer Beichte folgen wird.
versehene Bühne des kleinen Tonhallesaals. Man
Und nun die literarische Plauderei Bahrs, der
geht nach Hilfeleistung aus. Die Frau ist allein bei
nöchte sagen: gleich mit den ersten Worten hat sich
dem Toten. Wie, wenn man sie bei ihm findet?
freilich das Referat das Beste raubt: den versön ichen
Bahr die Sympathie seiner erfreulich zahlreichen Hörer
Ton. Nicht eine kritische Beurteilung Schnitzlers möge
Dann ist sie bloßgestellt und der Skandal perfekt.
gewonnen. Der Fünfundvierzigjährige sah so erstaunlich
Sie beschließt, den Toten seinem Schicksal zu über¬
man von ihm erwarten. Dazu siehe er dem Mann zu
Brahmsisch aus mit seinen graumelierten Haaren
lassen und sich heimlich davonzumachen. Dann weiß
nahe und zudem: objektive Urteile in ästhetischen
(einer prachtvollen Mähne und einem weich herab¬
Dingen seien überhaupt nicht möglich. Auch auf Daten
niemand um die Sache, denn der Kutscher wird die
fließenden schmalen Barte), und dabei blitzten seine
verzichte er; was in jedem Lexikon zu finden ist,
Verschleierte niemals wieder erkennen. Sie tut so.
dunklen Augen so jugendlich, und der österreichische
braucht man nicht erst noch zu berichten. Darauf
Unbemerkt kommt sie nach Hause. Ihr Gatte kehrt
Dialekt färbte so warm und gemütlich sein Hochdeutsch,
kommt es dem Redner an, den Autor verständlich zu
heim. Alle Gefahr scheint beseitigt zu sein. Da ge¬
daß dieser Mann einem gleich ordentlich lieb wurde.
machen, seine Geistesdisposition, die geistige Weltgegend
schieht, woran sie nicht gedacht hat: die furchtbare
Er teilte zunächst mit, daß er das Programm um¬
gleichsam zu schildern, der er entstammt. Selbst die
Aufregung verwirrt ihr nachträglich die Sinne, und
drehen werde: erst die Novelle Schnitzlers, dann das,
größten Künstler sind das Endwort einer langen
ihr Mund spricht unbewußt die Worte „die Toten
was er über Schnitzler vorbringen wolle; er sei dann
nationalen Entwicklung, der Mund ihres Volkes.
schweigen“ — sie hat sich selbst verraten. Aber mit
sicher, in der Oekonomie der Zeit nicht irre zu gehen.
Schnitzlers eigentliche Bedeutung erblicken wir in
dem vollen Geständnis kommt auch eine tiefe Ruhe
So las er denn die Novelle „Die Toten schweigen“
Oesterreich darin, daß er der Mund einer ganzen
über sie
*
vor, bis gegen neun Uhr, machte dann eine Pause,
neuen Generation geworden ist, daß er so reich
Mit der geübten Hand des Künstlers legt das
und um 9½ Uhr hatte seine Causerie über Schnitzler
kein anderer seiner Zeitgenossen das geistige Oesterreich
Schnitzler auseinander, sicher sind die Akzente gesetzt
ihren Abschluß erreicht. Das größte Lob, das man
der Gegenwarr repräsentiert und zum Ausdrucke
(hin und wieder nur etwas gar zu klug berechnet),
Bahr zu spenden wüßte, ist, daß man ihm gerne noch
und an ergreifenden Partien fehlt es nicht. Wunder¬
eine weitere halbe Stunde zugehört hätte, so frisch und
Es ist zunächst von dem harten, dumpfen Geschicke
voll vor allem die Stelle, wie nach dem Unfall das
herzlich und formschön sprach er, ganz ungezwungen
zu sprechen, das jahrhundertelang auf Oesterreich lag.
Licht von der Laterne des Kutschers langsam weiter¬
Nicht nur den Protestantismus, sondern alles geistige
gleitet über den Boden hin, auf den starr daliegenden
meisternd und formend. Der wärmste Beifall klang ihm