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8. Die Toten schweigen
—
Telephon 12801.
□ l. österr. behördl. konz. Unternehmen für Zeitungs-Ausschaitte
Wien, I., Concordiaplatz 4.
Vertretungen
in Berlin, Budapest, Chicago, Christiania, Genf, Kopen¬
hagen, London, Madrid, Mailand, Minncapolis, New-Vork,
O
Paris, Rom, San Francisco, Stockholm, St. Petersburg.
(Quellenangabe ohne Gewähr.)
*
Ausschnitt aus:
6. Nov. Hwkfurter Intelligenzblatt
E vom:
1.
ermann Bahr über Arthur Schnitzler. Die Freie
ermann
arische Gesellsch
Lr eingeladen, in Frankfurt einen Vortrag zu hal¬
ten. Der führende österreichische Poet, Kritiker und sieg¬
hafte Bekämpfer der Unnatur und des „Naturalismus
in Kunst und Leben erschien gestern im ausverlauften
großen Saal des Kaufmännischen Vereins und sprach, offen¬
bar prächtig disponiert und in bester Laune über seinen
Kollegen in Apoll, Kampfgenossen und Freund Arthur
Schnitzler. Hermann Bahr ist jetzt 45 Jahre alt. Sein
Patriarchenbart ist von Silberfäden durchzogen, aber noch
umwallt ungebleicht die braune Löwenmähne seine glatte
hochgewölbte Stirn, noch funkeln die klugen gütigen Augen
in jugendlichem Feuer, und wie ein begeisterter Jüngling
erzählt er mit frischer klangvoller Stimme von seinen uid von
Schnitzlers Kämpfen, von beider Wollen und Vollbringen.
Ueberall im Reich, so plaudert er gemütlich, haben Die
österreichischen Poeten Sympathien, man hat die Künstler
Oesterreichs in Deutschland lieb; aber ihnen wird es des¬
halb manchmal bange, weil sie fürchten, daß durch diese Sym¬
pathien die Distanz für die richtige Beurteilung ihrer Werke
verloren gehen könnte. Arthur Schnitzler ist bekannt, be¬
rühmt und doch — so paradox das klingen mag — auch ver¬
kannt; das Tiefste seines Wesen, das Beste seines Schaffens
wird nicht beachtet. Deshalb, weil man ihm nicht das Recht
einräumt, anders zu sein. als man in Berlin am Montag
dem soundsovielsten eines Monats gerade künstlerisch gesinnt
ist. Er hat aber ein Recht, anders zu sein; wir Oesterreicher
wollen und müssen unseren eigenen Poctenwinkel haben, wir
müssen unserer Sonderart nachgehen, müssen unsere eige¬
nen Gedanken haben, weil wir uns anders entwickelt, weil
wir eine eigene Geschichte haben. Vom 30jährigen Kriege
an ist Oesterreich zwei Jahrhunderte lang vollständig vom
geistigen Leben ausgeschlossen gewesen. Die Folge war
eine brennende Sehnsucht nach besserer Zukunft, eine un¬
geheure Ungeduld, diese Sehnsucht zu stillen. Große Män¬
ner, wie Josef II., haben, getrieben von dieser Ungeduld,
folgenschwere Sünden begangen. Sie glaubten, man könne
durch Dekrete eine versäumte Entwicklung mit einem
Schlage nachholen. Geistige Güter aber müssen erkämpft,
können nicht von außen importiert werden. Solche Fehler
sind bei uns immer wieder begangen warden= auf Nori##
den der Stagnation folgten Perioden der Ungeduld, der
künstlichen Auffrischung auf allen Gebieten des geistigen
Lebens. Olbrich in der Architektur, Hugo Wolf in der
Musik, Arthur Schnitzler in der Literatur — sie sind der
Protest gegen die falsche, unnatürliche und unwirksame
Art in der Kunst, die auf gelehrter Bildung basierte.
Olbrich hat das Schicksal Schnitzlers geteilt; man hat ihn
in Deutschland nie ganz verstanden, weil er ein Oester¬
reicher war. Um ihn zu verstehen, muß man die Bau¬
geschichte Wiens, muß man das unnatürliche Stil¬
konglomerat der Ringstraße kennen, gegen das sich Olbrichs
gesunder Sinn so aufbäumic, Hugo Wolf war gegen
Olbrich, den Naiven, ewig Lächelnden, Gläubigen wie ein
Elementarereignis; er stürmte, raste, verbrannte die an¬
dern im Geiste und verbrannte schließlich im Grunde sich
selbst. Beide wollten brechen mit dem Heuchlerischen,
Falschen, Zeitfremden in der Kunst, wollten nur lauschen
auf die eigene, echte, große Empfindung. Schnitzler ist
in anderer; er ist der Mann einer stillen alten Kultur
und deshalb auch ein Mann der Gerechtigkeit. In der
lten Wiener „liberalen“ Bildung, einer merkwürdigen
Scheinkultur, ist er aufgewachsen. Als ich (Bahr) mit
großen Erlebnissen, mit Ibsen, mit Marx und der ganzen
großen sozialen Bewegung. mit der neuen französischen
Malerei nach Wien zurückgekehrt war, gab es dort einen
Zusammenstoß von zwei ganz verschiedenen geistigen Dis¬
positionen. Wir wollten mittun bei diesen großen Dingen,
aber es befiel uns eine fürchterliche Angst, dabei all die
schönen alten Dinge unseres Landes vielleicht zer¬
stören zu müssen. Schnitzler ist über diese Angst eigent¬
lich nie hinausgekommen; aber das gerade ist sein größter
Reiz. Nicht durch Hervorhebung der Gegensätze kommt
man zur größten künstlerischen Wahrheit, sondern dadurch,
daß man sie ineinander klingen läßt. Und diese große
Kunst ist das Geheimnis der Kunst Schnitzlers. Er drückt
überall seine österreichische Zeit aus in allen ihren Ge¬
fühlen; er ist insofern immer derselbe und doch immer
ein anderer; er wiedeeholt sich immer und wiederholt sich
niemals; er läßt stets österreichische Gefühle anklingen,
stellt aber jedesmal die Gesamtheit dieser Gefühle in ein
anderes Zentrum. — Zum Schlusse las Bahr eine Epistel
vor, die er einst an Schnitzler über dessen Einakter „Der
Lustigmacher“ geschrielen, und knüpfte an die darin aus¬
gesprochenen Mahnunn die Hoffnung, daß Schnitzler der¬
einst das große Wert schreiben werde, „das unser ganzes
Oesterreich enthält.“ — Der Wiener Gaft wurde vom Frank¬
furter Publikum durch stürmischen Beifall ausgezeichnet
und schied mit freundlichem Dank für die ihm dargebrachten
Ovationen.
Im allgemeinen ist dieser Großfutstendummel nicht ge¬
rade gefährlich, wenigstens kaum gefährlicher als irgend ein
anderer nächtlicher Bummel in Paris. Die Großfürsten
freilich ließen sich dabei stets von mehreren Geheimpolizisten
begleiten, und ein gleiches tun auch heute noch die reichen
Ausländer, wenn sie sich das nämliche Vergnügen machen
wollen. Aber notwendig ist diese Polizeibegleitung keines¬
wegs, und alles in allem läuft man beim Vater Lunette
und in den Nachtlokalen der Markthallen nicht mehr Ge¬
fahr als auf dem Montmartre oder an den Boulevards.
Natürlich ist es nicht klug, ein mit Geldscheinen und Gold
gefülltes Portemonnaie zu zeigen, aber das ist auch anders¬
#nicht klug. Man erzählt aber den ausländischen Nacht¬
###mmlern selbstverständlich gerne allerlei Mordgeschichten,
die ihnen gruseln machen und sie in der Meinung be¬
stärken, etwas ganz Außerordentliches und Gefährliches zu
tun. Dadurch erhielt der Großfürstenbummel den Reiz des
Verbotenen ohne welchen er wohl nie zur Mode bei den in
Parjs hausenden mastaquouères geworden wäre.
Literarische Gesellschaft. 7/ Gdat
7
Vorlesung Hermann Bahr.
Die letzte Erinneruna Hermann Bahrs an Hamburg:
der Theaterskandal im Thalia=Theater. Hallo, in Feindes¬
land! Die Invasion seiner Truppen, das Wortgeplänkel
iner Dialoge wurde abgeschlagen — nun rückt er selbst
eran. Hier bin ich, und ich sage euch zuvor: Ihr seid nicht
ch. Ihr seid Deutsche und Hüter am Torweg der Welt, ich
Kkomme aus Oesterreich, darinnen seit dreibundert Jahren die
Köpse gemäht wurden, die aus der Finsternis zum Licht be¬
gehrten. Mau hat an meinem Kopfe auch herumgehackt,
und hundert Narben deckt die Mähne meines Haars. Man
8. Die Toten schweigen
—
Telephon 12801.
□ l. österr. behördl. konz. Unternehmen für Zeitungs-Ausschaitte
Wien, I., Concordiaplatz 4.
Vertretungen
in Berlin, Budapest, Chicago, Christiania, Genf, Kopen¬
hagen, London, Madrid, Mailand, Minncapolis, New-Vork,
O
Paris, Rom, San Francisco, Stockholm, St. Petersburg.
(Quellenangabe ohne Gewähr.)
*
Ausschnitt aus:
6. Nov. Hwkfurter Intelligenzblatt
E vom:
1.
ermann Bahr über Arthur Schnitzler. Die Freie
ermann
arische Gesellsch
Lr eingeladen, in Frankfurt einen Vortrag zu hal¬
ten. Der führende österreichische Poet, Kritiker und sieg¬
hafte Bekämpfer der Unnatur und des „Naturalismus
in Kunst und Leben erschien gestern im ausverlauften
großen Saal des Kaufmännischen Vereins und sprach, offen¬
bar prächtig disponiert und in bester Laune über seinen
Kollegen in Apoll, Kampfgenossen und Freund Arthur
Schnitzler. Hermann Bahr ist jetzt 45 Jahre alt. Sein
Patriarchenbart ist von Silberfäden durchzogen, aber noch
umwallt ungebleicht die braune Löwenmähne seine glatte
hochgewölbte Stirn, noch funkeln die klugen gütigen Augen
in jugendlichem Feuer, und wie ein begeisterter Jüngling
erzählt er mit frischer klangvoller Stimme von seinen uid von
Schnitzlers Kämpfen, von beider Wollen und Vollbringen.
Ueberall im Reich, so plaudert er gemütlich, haben Die
österreichischen Poeten Sympathien, man hat die Künstler
Oesterreichs in Deutschland lieb; aber ihnen wird es des¬
halb manchmal bange, weil sie fürchten, daß durch diese Sym¬
pathien die Distanz für die richtige Beurteilung ihrer Werke
verloren gehen könnte. Arthur Schnitzler ist bekannt, be¬
rühmt und doch — so paradox das klingen mag — auch ver¬
kannt; das Tiefste seines Wesen, das Beste seines Schaffens
wird nicht beachtet. Deshalb, weil man ihm nicht das Recht
einräumt, anders zu sein. als man in Berlin am Montag
dem soundsovielsten eines Monats gerade künstlerisch gesinnt
ist. Er hat aber ein Recht, anders zu sein; wir Oesterreicher
wollen und müssen unseren eigenen Poctenwinkel haben, wir
müssen unserer Sonderart nachgehen, müssen unsere eige¬
nen Gedanken haben, weil wir uns anders entwickelt, weil
wir eine eigene Geschichte haben. Vom 30jährigen Kriege
an ist Oesterreich zwei Jahrhunderte lang vollständig vom
geistigen Leben ausgeschlossen gewesen. Die Folge war
eine brennende Sehnsucht nach besserer Zukunft, eine un¬
geheure Ungeduld, diese Sehnsucht zu stillen. Große Män¬
ner, wie Josef II., haben, getrieben von dieser Ungeduld,
folgenschwere Sünden begangen. Sie glaubten, man könne
durch Dekrete eine versäumte Entwicklung mit einem
Schlage nachholen. Geistige Güter aber müssen erkämpft,
können nicht von außen importiert werden. Solche Fehler
sind bei uns immer wieder begangen warden= auf Nori##
den der Stagnation folgten Perioden der Ungeduld, der
künstlichen Auffrischung auf allen Gebieten des geistigen
Lebens. Olbrich in der Architektur, Hugo Wolf in der
Musik, Arthur Schnitzler in der Literatur — sie sind der
Protest gegen die falsche, unnatürliche und unwirksame
Art in der Kunst, die auf gelehrter Bildung basierte.
Olbrich hat das Schicksal Schnitzlers geteilt; man hat ihn
in Deutschland nie ganz verstanden, weil er ein Oester¬
reicher war. Um ihn zu verstehen, muß man die Bau¬
geschichte Wiens, muß man das unnatürliche Stil¬
konglomerat der Ringstraße kennen, gegen das sich Olbrichs
gesunder Sinn so aufbäumic, Hugo Wolf war gegen
Olbrich, den Naiven, ewig Lächelnden, Gläubigen wie ein
Elementarereignis; er stürmte, raste, verbrannte die an¬
dern im Geiste und verbrannte schließlich im Grunde sich
selbst. Beide wollten brechen mit dem Heuchlerischen,
Falschen, Zeitfremden in der Kunst, wollten nur lauschen
auf die eigene, echte, große Empfindung. Schnitzler ist
in anderer; er ist der Mann einer stillen alten Kultur
und deshalb auch ein Mann der Gerechtigkeit. In der
lten Wiener „liberalen“ Bildung, einer merkwürdigen
Scheinkultur, ist er aufgewachsen. Als ich (Bahr) mit
großen Erlebnissen, mit Ibsen, mit Marx und der ganzen
großen sozialen Bewegung. mit der neuen französischen
Malerei nach Wien zurückgekehrt war, gab es dort einen
Zusammenstoß von zwei ganz verschiedenen geistigen Dis¬
positionen. Wir wollten mittun bei diesen großen Dingen,
aber es befiel uns eine fürchterliche Angst, dabei all die
schönen alten Dinge unseres Landes vielleicht zer¬
stören zu müssen. Schnitzler ist über diese Angst eigent¬
lich nie hinausgekommen; aber das gerade ist sein größter
Reiz. Nicht durch Hervorhebung der Gegensätze kommt
man zur größten künstlerischen Wahrheit, sondern dadurch,
daß man sie ineinander klingen läßt. Und diese große
Kunst ist das Geheimnis der Kunst Schnitzlers. Er drückt
überall seine österreichische Zeit aus in allen ihren Ge¬
fühlen; er ist insofern immer derselbe und doch immer
ein anderer; er wiedeeholt sich immer und wiederholt sich
niemals; er läßt stets österreichische Gefühle anklingen,
stellt aber jedesmal die Gesamtheit dieser Gefühle in ein
anderes Zentrum. — Zum Schlusse las Bahr eine Epistel
vor, die er einst an Schnitzler über dessen Einakter „Der
Lustigmacher“ geschrielen, und knüpfte an die darin aus¬
gesprochenen Mahnunn die Hoffnung, daß Schnitzler der¬
einst das große Wert schreiben werde, „das unser ganzes
Oesterreich enthält.“ — Der Wiener Gaft wurde vom Frank¬
furter Publikum durch stürmischen Beifall ausgezeichnet
und schied mit freundlichem Dank für die ihm dargebrachten
Ovationen.
Im allgemeinen ist dieser Großfutstendummel nicht ge¬
rade gefährlich, wenigstens kaum gefährlicher als irgend ein
anderer nächtlicher Bummel in Paris. Die Großfürsten
freilich ließen sich dabei stets von mehreren Geheimpolizisten
begleiten, und ein gleiches tun auch heute noch die reichen
Ausländer, wenn sie sich das nämliche Vergnügen machen
wollen. Aber notwendig ist diese Polizeibegleitung keines¬
wegs, und alles in allem läuft man beim Vater Lunette
und in den Nachtlokalen der Markthallen nicht mehr Ge¬
fahr als auf dem Montmartre oder an den Boulevards.
Natürlich ist es nicht klug, ein mit Geldscheinen und Gold
gefülltes Portemonnaie zu zeigen, aber das ist auch anders¬
#nicht klug. Man erzählt aber den ausländischen Nacht¬
###mmlern selbstverständlich gerne allerlei Mordgeschichten,
die ihnen gruseln machen und sie in der Meinung be¬
stärken, etwas ganz Außerordentliches und Gefährliches zu
tun. Dadurch erhielt der Großfürstenbummel den Reiz des
Verbotenen ohne welchen er wohl nie zur Mode bei den in
Parjs hausenden mastaquouères geworden wäre.
Literarische Gesellschaft. 7/ Gdat
7
Vorlesung Hermann Bahr.
Die letzte Erinneruna Hermann Bahrs an Hamburg:
der Theaterskandal im Thalia=Theater. Hallo, in Feindes¬
land! Die Invasion seiner Truppen, das Wortgeplänkel
iner Dialoge wurde abgeschlagen — nun rückt er selbst
eran. Hier bin ich, und ich sage euch zuvor: Ihr seid nicht
ch. Ihr seid Deutsche und Hüter am Torweg der Welt, ich
Kkomme aus Oesterreich, darinnen seit dreibundert Jahren die
Köpse gemäht wurden, die aus der Finsternis zum Licht be¬
gehrten. Mau hat an meinem Kopfe auch herumgehackt,
und hundert Narben deckt die Mähne meines Haars. Man