8. Die Toten schweigen
S
anden. Kau G
d. Hermann Bahr in der Literarischen Gesellschaft. Die
vorankündigung für die gestrige Veranstaltung der Literarischen
desellschaft verhieß eine Vorlesung Hermann Bahrs „aus
Es waren deren nur zwei,
teueren Wiener Dichtern“.
ie durch den Mund des berühmten Wiener Schrift¬
tellers und Kritikers zu Worte kamen: Arthur Schnitzler und der
rühere Hofburgtheater=Direktor Max Burckhard. Dafür gab es
aber noch eine kleine außerprogrammäßige Zugabe. Der Gast machte
nämlich zwischen den beiden gelesenen Proben einige interessante
Bemerkungen über die jung=österreichische Dichtergeneration, zu der
er selbst gehört, im allgemeinen und über ihren Mittelpunkt Schnitz¬
ler sowie Burkhard im besonderen. Es sollte kein kritisches Urtei!
sein, sondern Bahr wollte damit nur einige Dinge aussprechen, die
die österreichischen Autoren alle auf dem Herzen hätten. Gerade
solche Abende, wie der gestrige, wo ein fremder Autor vor einem
remden Publikum stehe, könnten einen guten Sinn haben, wenn
das Publikum durch die Vermittelung der lebendigen Stimme ein
richtiges Verhältnis gewinne zwischen dem Buch, das nur ein loter
Buchstabe sei, und den Autoren. Die österreichischen Dichter hät¬
ten sich über das Publikum im Deutschen Reich nicht zu beklagen,
sie fühlten, daß dort die Stammesbrüder in Oesterreich nicht ver¬
gessen würden. Aber manchmal hätten sie das Gefühl, daß gerade
infolge dieser Sympathie die Distanz zu ihren Werken verloren
gehe, man höre nicht heraus, daß sie andere seien und andere sein
müßten, man berücksichtige nicht ihre österreichische Art, die eine
andere sei. Bahr schilderte dann, wie seit dem dreißigjährigen
Kriege Oesterreich vollständig ausgeschlossen war von allem geistigen
Leben Europas, wie dann, als Oesterreich wieder deutsch werden,
wieder zu Euxopa gehören sollte, mit einem Federstrich das Ver¬
äumte nachgeholt werden sollte. Dieses importierte Deutschtum,
diese künstliche Bildung wurde aber überall in Oesterreich als künst¬
lich empfunden, und so sank es wieder ins Extrem zurück. Zwischen
diesen beiden Gefahren hat das österreichische Leben sich hin und
herbewegt. Erst die jetzige Generation hat dieses Problem erkannt
und sich bemüht, es zu lösen. Und wie z. B. auf dem Gebiet des Bau¬
wesens der junge Schlesier Josef Olbrich, in der Musik Hugo Wolf
durch ein erlösendes Wort die Wege aus dem Dilemma herausge¬
wiesen haben, so hat die Gruppe um Arthur Schnitzler in der Lite¬
ratur den Boden bereitet für eine Versöhnung der beiden Extreme:
der von außen importierten unösterreichischen künstlichen Bildung
und dem Zauber des wieder entdeckten alten Oesterreich. „Wir
rangen, europäisch zu werden, die europäischen Dinge nicht zu ver¬
säumen, andererseits von dem
stillen
Wien
nichts zu
verlieren.
Diese beiden
Dinge
zusam¬
men ergaben das junge Wien, das junge Oesterreich.“
Vor diesem feinen Exkurs, der den geistvollen Plauderer erkennen
ließ, las Bahr die längere Novelle Schnitzlers „Die Toten
schweigen“ ein düster=realistisches Bild aus dem Großstadt¬
leben, in dem das von Schnitzler so viel variierte Thema der „Ehe¬
ierung“ mit souveräner Beherrschung des psychologischen Ele¬
ments und der ganzen Feinheit lebenswahrer Kleinmalerei behan¬
delt ist. Jos humoristische Gebiet schlug Burckhards satirisch=drollige
Geschichte „Besitz und Recht“, in der mit köstlichem Humor die
Typen der zwei prozessierenden Bauern und des seine würdigste
Amtsmiene aufsetzenden iovialen Bezirksrichters gezeichnet sind.
Schallende Heiterkeit weckte die überraschende mit echter Bauern¬
schlauheit gezogene Nutzanwendung aus dem vom Richter zu Recht
vorkündeten Begriff des „Ersitzens“. Auch diesen Autor würdigte
Bahr kurz in seiner künstlerischen Eigenart, wobei er nameatlich
auf die großen Verdienste hinwies, die er sich um die Literatur in
Keker Weise verdunden. oder kur mit ihr Wentisch iet.
Oesterreich als langjähriger Theaterdirektor erworben hat. Auf
die Mitglieder und Freunde der Literarischen Gesellschaft hatte der
Name Bahr natürlich eine starke Anziehungskraft ausgeübt, Man
freute sich, den berühmten Vertreter der jungösterreichischen Dichter¬
generation zum erstenmal kennen zu lernen oder die vor zehn Jah¬
ren gemachte Bekanntschaft — damals hat Herr Bahr schon einmal
in Hamburg gesprochen — zu erneuern. Dem liebenswürdigen Gast
wurde gestern durch wärmsten Beifall und mehrere Hervorrufe für
den interessanten Aband gedankt¬
— — —
OiH: OlbmfauiM##i:a
box 1/6
Wenden! Rückselte beachten!
Wenden!
Telephon 12.801
S1
I. österr. behördl, konzession. Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte
WIEN I, CONCORDIAPLATZ 4
Vertretungen:
in Berlin, Basel, Budapest, Chicago, Cleveland, Christiania,
Genf, Kopenhagen, London, Madrid, Mailand, Minneapolis,
New-Vork, Paris, Rom, San Francisco, Stockholm, St. Peters¬
burg, Toronto.
(Quellenangabe ohne Gewähr.)
liner borsen Courier,
Berlin
Ausschnitt aus:
Abendausgabe
vom: 11.1001912
Vortragsabend Helene Henke.
Im Harmoniumsaal las Sonntag die Königsberger
Vortragskünstlerin Frau Helene Henke öster¬
Selbst massiv, versuchte sie sich
reichische Dichter.
zarten Wiener Todesdichtungen zu nähern. Zuerst
sprach sie Axthur Schuitzlers alte Novelle „Die Toten
schweigen“ vom Blatk. In dieser Erzählung tritt so¬
zusagen kein dynamischer Tod auf, sondern ein durch
Schlamperei verursachter. Der Tod und die Wiener
Fiakermisere. Und doch ist mehr da: schon anfangs
im Wagen die Furcht der abenteuernden, verliebten
Frau . .. Die ewige Furcht der Schwachen, verfolgt
Als der Geliebte der Trunkenheit des
zu werden.
Kutschers und einem ihr entwachsenden, simpeln
Straßenunfall zum Opfer fiel, erscholl in der kleinen
Frau der alte Ruf: rette sich, wer kann! Sie hatte ja
noch Mann und Kind, darf sich nicht diskreditieren, indem
sie bei dem Toten ausharrt. Die Seelenkrisen der
gemarterten Frau handhabte die Vortragende recht
gut, und doch: die Toten schweigen — aber die leben¬
den Vortragskünstlerinnen reden. Zuviel, wenn auch
in guter Absicht.
Nach Schnitzlers „Der Tod und der Fiaker“ kam
Hofmannsthals „Der Tor—und der Too“ an die
Reihe. Und die verhaltene, nicht ganz natürlich ge¬
dämpfte Stimme der Vorleserin, ab und zu wirkungs¬
voll unterbrochen von den Klängen der Musik Otto
Hiebachs, spendete manchem etliche Schauer des
Todes.
So war dieser gutgemeinte Vortragsabend gan
dem Gedanken der Vergänglichkeit, dem Hinschwinde
des Lebens und der Dichtungen geweiht: es gal
rührend=halbverschollene Poesie, in einer ganz ver¬
schollenen Weise einem kleinen, beifallsgütigen Publikum
dargebracht.
S
anden. Kau G
d. Hermann Bahr in der Literarischen Gesellschaft. Die
vorankündigung für die gestrige Veranstaltung der Literarischen
desellschaft verhieß eine Vorlesung Hermann Bahrs „aus
Es waren deren nur zwei,
teueren Wiener Dichtern“.
ie durch den Mund des berühmten Wiener Schrift¬
tellers und Kritikers zu Worte kamen: Arthur Schnitzler und der
rühere Hofburgtheater=Direktor Max Burckhard. Dafür gab es
aber noch eine kleine außerprogrammäßige Zugabe. Der Gast machte
nämlich zwischen den beiden gelesenen Proben einige interessante
Bemerkungen über die jung=österreichische Dichtergeneration, zu der
er selbst gehört, im allgemeinen und über ihren Mittelpunkt Schnitz¬
ler sowie Burkhard im besonderen. Es sollte kein kritisches Urtei!
sein, sondern Bahr wollte damit nur einige Dinge aussprechen, die
die österreichischen Autoren alle auf dem Herzen hätten. Gerade
solche Abende, wie der gestrige, wo ein fremder Autor vor einem
remden Publikum stehe, könnten einen guten Sinn haben, wenn
das Publikum durch die Vermittelung der lebendigen Stimme ein
richtiges Verhältnis gewinne zwischen dem Buch, das nur ein loter
Buchstabe sei, und den Autoren. Die österreichischen Dichter hät¬
ten sich über das Publikum im Deutschen Reich nicht zu beklagen,
sie fühlten, daß dort die Stammesbrüder in Oesterreich nicht ver¬
gessen würden. Aber manchmal hätten sie das Gefühl, daß gerade
infolge dieser Sympathie die Distanz zu ihren Werken verloren
gehe, man höre nicht heraus, daß sie andere seien und andere sein
müßten, man berücksichtige nicht ihre österreichische Art, die eine
andere sei. Bahr schilderte dann, wie seit dem dreißigjährigen
Kriege Oesterreich vollständig ausgeschlossen war von allem geistigen
Leben Europas, wie dann, als Oesterreich wieder deutsch werden,
wieder zu Euxopa gehören sollte, mit einem Federstrich das Ver¬
äumte nachgeholt werden sollte. Dieses importierte Deutschtum,
diese künstliche Bildung wurde aber überall in Oesterreich als künst¬
lich empfunden, und so sank es wieder ins Extrem zurück. Zwischen
diesen beiden Gefahren hat das österreichische Leben sich hin und
herbewegt. Erst die jetzige Generation hat dieses Problem erkannt
und sich bemüht, es zu lösen. Und wie z. B. auf dem Gebiet des Bau¬
wesens der junge Schlesier Josef Olbrich, in der Musik Hugo Wolf
durch ein erlösendes Wort die Wege aus dem Dilemma herausge¬
wiesen haben, so hat die Gruppe um Arthur Schnitzler in der Lite¬
ratur den Boden bereitet für eine Versöhnung der beiden Extreme:
der von außen importierten unösterreichischen künstlichen Bildung
und dem Zauber des wieder entdeckten alten Oesterreich. „Wir
rangen, europäisch zu werden, die europäischen Dinge nicht zu ver¬
säumen, andererseits von dem
stillen
Wien
nichts zu
verlieren.
Diese beiden
Dinge
zusam¬
men ergaben das junge Wien, das junge Oesterreich.“
Vor diesem feinen Exkurs, der den geistvollen Plauderer erkennen
ließ, las Bahr die längere Novelle Schnitzlers „Die Toten
schweigen“ ein düster=realistisches Bild aus dem Großstadt¬
leben, in dem das von Schnitzler so viel variierte Thema der „Ehe¬
ierung“ mit souveräner Beherrschung des psychologischen Ele¬
ments und der ganzen Feinheit lebenswahrer Kleinmalerei behan¬
delt ist. Jos humoristische Gebiet schlug Burckhards satirisch=drollige
Geschichte „Besitz und Recht“, in der mit köstlichem Humor die
Typen der zwei prozessierenden Bauern und des seine würdigste
Amtsmiene aufsetzenden iovialen Bezirksrichters gezeichnet sind.
Schallende Heiterkeit weckte die überraschende mit echter Bauern¬
schlauheit gezogene Nutzanwendung aus dem vom Richter zu Recht
vorkündeten Begriff des „Ersitzens“. Auch diesen Autor würdigte
Bahr kurz in seiner künstlerischen Eigenart, wobei er nameatlich
auf die großen Verdienste hinwies, die er sich um die Literatur in
Keker Weise verdunden. oder kur mit ihr Wentisch iet.
Oesterreich als langjähriger Theaterdirektor erworben hat. Auf
die Mitglieder und Freunde der Literarischen Gesellschaft hatte der
Name Bahr natürlich eine starke Anziehungskraft ausgeübt, Man
freute sich, den berühmten Vertreter der jungösterreichischen Dichter¬
generation zum erstenmal kennen zu lernen oder die vor zehn Jah¬
ren gemachte Bekanntschaft — damals hat Herr Bahr schon einmal
in Hamburg gesprochen — zu erneuern. Dem liebenswürdigen Gast
wurde gestern durch wärmsten Beifall und mehrere Hervorrufe für
den interessanten Aband gedankt¬
— — —
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I. österr. behördl, konzession. Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte
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Vertretungen:
in Berlin, Basel, Budapest, Chicago, Cleveland, Christiania,
Genf, Kopenhagen, London, Madrid, Mailand, Minneapolis,
New-Vork, Paris, Rom, San Francisco, Stockholm, St. Peters¬
burg, Toronto.
(Quellenangabe ohne Gewähr.)
liner borsen Courier,
Berlin
Ausschnitt aus:
Abendausgabe
vom: 11.1001912
Vortragsabend Helene Henke.
Im Harmoniumsaal las Sonntag die Königsberger
Vortragskünstlerin Frau Helene Henke öster¬
Selbst massiv, versuchte sie sich
reichische Dichter.
zarten Wiener Todesdichtungen zu nähern. Zuerst
sprach sie Axthur Schuitzlers alte Novelle „Die Toten
schweigen“ vom Blatk. In dieser Erzählung tritt so¬
zusagen kein dynamischer Tod auf, sondern ein durch
Schlamperei verursachter. Der Tod und die Wiener
Fiakermisere. Und doch ist mehr da: schon anfangs
im Wagen die Furcht der abenteuernden, verliebten
Frau . .. Die ewige Furcht der Schwachen, verfolgt
Als der Geliebte der Trunkenheit des
zu werden.
Kutschers und einem ihr entwachsenden, simpeln
Straßenunfall zum Opfer fiel, erscholl in der kleinen
Frau der alte Ruf: rette sich, wer kann! Sie hatte ja
noch Mann und Kind, darf sich nicht diskreditieren, indem
sie bei dem Toten ausharrt. Die Seelenkrisen der
gemarterten Frau handhabte die Vortragende recht
gut, und doch: die Toten schweigen — aber die leben¬
den Vortragskünstlerinnen reden. Zuviel, wenn auch
in guter Absicht.
Nach Schnitzlers „Der Tod und der Fiaker“ kam
Hofmannsthals „Der Tor—und der Too“ an die
Reihe. Und die verhaltene, nicht ganz natürlich ge¬
dämpfte Stimme der Vorleserin, ab und zu wirkungs¬
voll unterbrochen von den Klängen der Musik Otto
Hiebachs, spendete manchem etliche Schauer des
Todes.
So war dieser gutgemeinte Vortragsabend gan
dem Gedanken der Vergänglichkeit, dem Hinschwinde
des Lebens und der Dichtungen geweiht: es gal
rührend=halbverschollene Poesie, in einer ganz ver¬
schollenen Weise einem kleinen, beifallsgütigen Publikum
dargebracht.