I, Erzählende Schriften 3, Sterben. Novelle, Seite 13

3.
Sterben
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Nl. 9
Das Magazin für Litteratur.
1895
einem Jahre sterben muß, mit all den Stimmungsschwank¬
ihrer werden — sich etwas träumen läßt. Aber das
ungen aus Trotz und Hoffnung, mit all den blitzartig
Menschliche kommt hinter den Realien arg zu kurz.
sich einstellenden, schnell variirenden Empfindungsnüancen
des Gerührtseins über sich selber, der stolzen Ueberlegenheit
Moderne Gegenwart geben die wenigen litterarischen
in den philosophisch=stoischen Stunden, der jähen krampfigen
Neuerscheinungen der letzten Monate, die die Marke künst¬
Angst.
lerischen Ursprungs deutlich sichtbar an der Stirn tragen.
All das aber ist rein künstlerisch gegeben und hat
Ein Kapitelaus der Großstadtliebe erzählt Wilhelm Hegelers
nichts zu tun mit gewissen Ausartungen moderner
„Und alles um die Liebe"!?) das besonders in der Charakter¬
„Nervenpoeten“, die auf ihr liebes heimliches Selbst
istik des Verführers mit seiner bummligen Grazie, dem
süchtig=zärtlich lauschen um aus der mühsam erhaschten
unwiderstehlichen Charme dem von Liebenswürdigkeit
Beute ein Buchlein zu machen. Sie sind doch nur eine
umkleideten Egoismus, der Skrupellosigkeit, der man doch
etwas interessantere Spezies der Buchmacher, aber keine
nie böse sein kann, ausgezeichnet ist. Hier wird uns nicht
Künstler.
ein Charakter fix und fertig zurechtgemacht vorgesetzt, sondern
wir lernen ihn allmälig verstehen und seine Eigenart er¬
kennen; wir lesen in einer Seele.
2200
In eine Welt, die bis jetzt meistens nur von Schwank¬
und Witz=Fabrikanten entstellend ausgebeutet wurde, führt
uns diesmal ein Schriftsteller. Der Freiherr von
Ompteda gibt in seinem Buch „Unser Regiment“ 13) ein
getreues Bild modernen Soldatenlebens mit seinen Licht¬
Die Allmacht den Korpsstudenten.
und Schattenseiten, mit Humor und Lebensernst.
Das Buch bekommt einen eignen Reiz dadurch, daß
„Das Wimmern des Menschen¬
scheinbar hier gar nicht für einen Leser geschrieben wird;
geschlechts unter dem Druck des ge¬
sellschaftlichen Unrechts und der ge¬
die Blätter wirken als rein persönliche Aufzeichnungen und
etzlosen Gewalt ist nicht Aufruhr.
daher um so echter, ursprünglicher, dem Moment abgelauscht
Auch lauter Tadel der öffentlichen
Die Schilderung selbst ist ausgezeichnet, temperamentvoll
Unordnung ist an sich nicht Auf¬
ruhr. Das Streben des Menschen¬
frisch; gesteigertes Lebensgefühl, eine Hussastimmung pul¬
geschlechts, die Maßregeln der öffent¬
sirt durch das Kapitel der Hubertusjagd; jauchzende
ichen Ordnung des gesellschaftlichen
Reiterlust hinter den Hunden und überschaumendes Wagen.
Rechts, wo sie mangeln, einzu¬
Naturgefühl zeigen die Landschaftsstimmungen. Em¬
ühren, und wo sie geschwächt sind,
zu stärken, dieses Streben liegt im
pfänglich sensitiv und doch dabei kerngesund, kein allzu
Innersten meiner unentwürdigten
verfeinerter Reiz, nicht weichlich= lyrisch= schwelgerisch, sondern
Natur; jedes Volk, dem es mangelt.
waidmännisch wie die waldduftigen Skizzen Liliencrons
ist in tiefe niedere Schlechtheit ver¬
Lebensvoll ist auch die Charakteristik der einzelnen
Beamte, die
senkt worden ......
Offizierstypen, vor allen des leichtsinnigen lieben Kerls
an Ort und Stelle zu Stuckreuten
tauglich wären, sind denn noch in
„Pfaff“
einem hohen Grad aewant und
Zwei Bücher zum Schluß, die im Kontrast zu dem
imstand, alles Verderben, das ihre
„vorher bei Albertis Roman geschilderten Realismus der
Derbheit und ihre Arglist über das
Land bringt, mit der Larve einer
Dinge und der Außenwelt ein entwicklungs=geschichtlich
heiligen Sorge für das Wol des
interessantes Bild geben. Der äußere Realismus ist durch
* * * *
Menschengeschlechts zu bedecken
den inneren, den psychologischen abgelöst; die heimliche
Selbst die Religion ist in ihrer
verborgene Welt unserer Gefühle und Stimmungen reizt
Hand nichts anderes, als ein elen¬
Ein junger
des Dienstmittel ihrer Schiefköpfig¬
mehr, als die mit den Augen sichtbare.
keit und ihrer Herzlosigkeit und ein
Dichter Georg Hirschfeld, der sein erstes Buch!“) heraus¬
Lückenbüßer ihrer elenden Polizei
bringt, bietet so rein psychologische Studien. Die erste
und ihrer Staatsmängel“ ...
„Dämon Kleist“ noch unreif; die zweite „Bei beiden“ eine
Pestalozzi Meine Nachforschungen
Talentprobe. Vor allem fein der Besuch bei dem wahn¬
über den Gang der Natur in der
des Menschengeschlechts
Entwickelung
innig gewordnen Künstler, der dem Freund von seinen
(1797).
neuen Gefühlsgenüssen spricht, wie er aus Wasserrauschen
und Blätterwehen neue Melodien lauscht, selig, glücklich
In der Faschingszeit des Jahres 1895 ist, obgleich
nur genießend, erlöst von der jagenden, hetzenden Qual,
im Norddeutschen das heilige Lachen des Unsinns nicht
nachschaffen zu müssen, in ermüdendem, erschlaffenden Kampf
so gedeihen will wie in Koln oder Mainz, dennoch in
mit der Natur, bis man sieglos zusammenbricht.
Berlin in dem Wallotschen Reichswaisenhaus ein Antrag
Vor allem markant aber für diese neue Poesie der
gestellt worden, daß hinfüro eine Leugnung der Unsterb¬
Innenwelt ist Arthur Schnitzlers Novelle „Sterben“ 15
lichkeit den Seele mit Gefängnis bestraft wird, wodurch
Das Aeußerliche ist hier völlig gleichgiltig geworden
offenbar der Seele Gelegenheit gegeben werden soll, sich
Schnitzler gibt kein Nationale seiner Figuren; wir erfahren
etwas früher von ihrer Unsterblichkeit zu überzeugen: ein
nichts über ihren Stand; es sind meistens künstlerisch
ehrenwertes pädagogisches Ziel, das beiläufig durch Ver¬
Genießende, die keine äußere Sorgen haben, die daher
hangung der Todesstrafe noch schneller erreicht würde.
ganz sich ihrem Gefühlsleben hingeben können; kein
In der Faschingszeit des Jahres 1895 hat ein
Vatersname wird genannt, der Vorname genügt. Die
Minister des Innern, der im übrigen ein Minister des
Hauptsache sind die innerlichen Vorgänge. Hier wird
Aeußersten ist, obgleich im Norddeutschen das heilige
nun mit einer virtuosen Kunst das Gemütsleben eines
Lachen des Unsinns nicht so gedeihen will wie in Köln
Schwindsüchtigen geschildert, der sicher weiß, daß er in
oder Mainz, dennoch in Berlin und zwar gegenüber dem
Stein=Denkmal trotz Schiller ein Kolleg über die Schau¬
1*) Berlin, Fontane 1895.
bühne als moralische Anstalt mit besonderer Berücksichti¬
13) Berlin, Fontane 1895.
gung von „Charleys Tante“ und des vorbildlichen Adolf¬
14) Dämon Kleist, Berlin, Fischer.
Ernst=Theaters gehalten.
13) Berlin, Fischer.
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