Sterben
box 1/2
3.—
Daun . Gem Unlase,
(
41 55
Ebenfalls ins Krankenzimmer führt uns eine andere
Novelle:
5. Sterben. Novelle. „Von Arthur Schnitzler. Berlin,
S. Fischer, Verlag“ 1895. 8. 2 M.
Der Verfasser gebietet über noch größere psychologische
Kunst, ich möchte fast sagen Kunstfertigkeit als Hirschfeld
und weiß uns für den an und für sich abstoßenden Stoff,
das letzte Lebensjahr eines jungen Schwindsüchtigen, zu
interessiren, ja fast zu erwärmen. Wenn man bedenkt,
daß die recht umfängliche Novelle außer einer Neben¬
person uns nur die zwei Helden vorführt, ferner daß fast
nichts geschieht, so wird man gestehen, daß keine geringe
Kunst der Darstellung und der psychologischen Entwickelung
dazu gehört, um uns, wie dies thatsächlich der Fall ist,
fast bis zur letzten Seite in Spannung zu erhalten. Um
welches Problem es sich handelt, ist mit den eigenen
Worten des Helden am kürzesten wiedergegeben. Der
Arzt hat ihm gesagt, daß er nur noch ein Jahr zu leben
habe, die Geliebte, welche seine Tage und Nächte mit ihm
theilt und ohne den anscheinend Gesunden nicht glaubt
leben zu können, wie auch er mit aller Liebe an ihr
hängt, opfert dem Kranken nahezu ihre Gesundheit, bis
endlich der Freund und Arzt ihr räth, auch an ihre Ge¬
sundheit zu denken. Nun heißt es:
Eine verbissene Wuth wühlte in ihm. Er glaubte in Marie's
Zügen einen Ausdruck bewußten Duldens wahrzunehmen, der nach
Mitleid verlangte, und wie eine Wahrheit, an der zu rütteln ver¬
messen wäre, zuckte es ihm durch das Gehirn, daß ja dieses Weib
verpflichtet sei, mit ihm zu leiden, mit ihm zu sterben. Sie
ruinirt sich; nun ja, selbstverständlich! Hatte sie vielleicht die Ab¬
sicht, rothe Wangen und glühende Augen zu behalten, während er
seinem Ende zueilte? Und glaubt Alfred (der Arzt) wirklich, daß
dieses Weib, welches seine Geliebte ist, das Recht hat, über die
Stunde hinauszudenken, die seine letzte sein wird?
Sie soll mit ihm sterben, in diesen Gedanken lebt er
sich immer mehr hinein; in ihr aber, der Jungen, Ge¬
sunden, erwacht mehr und mehr die Lebenslust, und was
ihm das Natürliche scheint, dagegen empört sich trotz ihrer
Liebe jede Faser ihres Daseins. Wie diese Gegensätze
sich entwickeln, wie sie sich immer mehr steigern bis zu
einem Mordversuch des zum Tyrann seiner Geliebten ge¬
wordenen Sterbenden, das ist der Inhalt der Novelle.
Und wahr, geradezu entsetzlich wahr ist die Schilderung;
doch bleibt soweit dichterische Schönheit hierbei überhaupt
noch möglich ist, diese gewahrt.
Dee #a-
Cr
20 Jn=ig.
Sterben. Novelle von Arthur Schnitzler. (Berlin, S. Fischer.)
Ein trauriges und peinliches, aber ein feines und bedeutendes Werk
eines echten Künstlers. Das Sterben eines Schwindsüchtigen wird ge¬
schildert, sein Ringen mit Leben und Tod, das langsame Scheiden von
der Geliebten, die Empörung, das Aufbäumen, der Todeskampf. Jeder
Zug ist beobachtet und wahr, nichts übertrieben, dem Dramatischen wird
discret aus dem Wege gegangen, wie jeglichem schildernden Naturalis¬
mus. Das Zuständliche ist knapp, die Menschen ohne Individualisirung
gezeichnet — sie haben auch keinen Familiennamen —, aber die
Seelenanalyse ist voll feiner Züge, so daß uns weder Ekel noch Schauer
erfaßt und die rein menschliche Theilnahme his zuletzt rege bleibt.
Snd
62
M D
181 5
Sterben. Novelle von Arthur„Schnitzler.
Gertm. S= Fischer, 1895.
Kurglttf
Durch seine entzückenden satirischen Anatok=Dialoge und
sein sehr grau in grau gezeichnetes, aber interessantes Schau¬
spiel: „Das Mätzchen“ — ein modernes Seelendrama
hat sich der feinunnige Wiener Dichter bereits Namen und
Achtung erworben. Seine Novelle „Sterben“ ist den ge¬
nannten frühern Dichtungen ebenbürtig. In einem schmerz¬
lichen Seelengemälde führt uns Schnitzler die große ernste
Wahrheit vor Augen, daß der Todkranke und Sterbende,
auch wenn die aufrichtigste Liebe an seinem Bette wacht,
doch in dieser letzten Lebensnot ein Einsamer ist 1— denn,
wie schon Platen sagt:
„Es kehrt an das, was Kranke quält, sich ewig der
Gesunde nichts,
Es fragt die Welt nach meinem Ziel, nach deiner letzten
Stunde nichts.
Dies wissen alle, doch vergißt es jeder gerne jeden Tag.
Zwei Arten von Egoismus begegnen sich am Sterbe¬
lager, der des Sterbenden und der des Ueberlebenden.
Wohl haben sanfte Sitten, religiöser Sinn und — konven¬
tionelle Lüge verhüllende Schleier über dieses Verhältnis
geworfen. Aber das Auge eines Dichters wie Schnitzler,
durchdringt diese Schleier und zeigt die Menschen, wie sie
ind, nicht bloß, wie sie sich geben. Allerdings hat sich
Schnitzler für seine Novelle einen ganz besondern Fall aus¬
gesucht, bei dem die erwähnten Affekte stärker als gewöhn¬
lich hervortreten. Es handelt sich um einen noch jungen,
an der Auszehrung leidenden Mann, dem auf sein dringendes
Fragen ein Arzt die bestimmte Erklärung gegeben hat, er
habe kaum mehr ein Jahr zu leben. Von diesem Todes¬
urteil setzt er auch seine jugendliche Lebensgefährtin in
Kenntnis und nun belauert er sie bald mit immer steigendem
Argwohn, wie weit sie wohl in ihrer natürlichen Lebens¬
lust ihm bis unter den Thorbogen des Todes folgen werde
ob nicht sein Kranksein, die ganze Jämmerlichkeit des
Menschentums, die dabei zu Tage tritt, ihm ihre volle
Liebe rauben werde, noch bevor er die Augen für immer
schließt. Das Leben haßt den Tod. Auch der geliebte Ster¬
bende hat, bei vollem Mitleid, das sie ihm gönnen, für die
Ueberlebenden etwas Unheimliches. Dieses nur wieder als
Sterbender empfinden zum müssen, ist qualvoll. In der
Novelle folgt der Dichter allen diesen schwankenden, ein¬
ander ablösenden Gefühlsnüancen mit erstaunlicher Seelen¬
kunde; doch hätte seine Novelle größeren Allgemeinwert er¬
halten, wenn er gegen den Schluß den Konflikt nicht so
auf die Spitze getrieben hätte bis zum Mordversuch des
Sterbenden an seiner Geliebten, der er es nicht gönnt, daß
sie weiter leben darf, wenn er in den Abgrund hinab muß.
„Melancholische Lektüre! wird man sagen, gewiß! aber“
soll man hinzusetzen — „ein kleines feines Kunstwerk.“
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Daun . Gem Unlase,
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Ebenfalls ins Krankenzimmer führt uns eine andere
Novelle:
5. Sterben. Novelle. „Von Arthur Schnitzler. Berlin,
S. Fischer, Verlag“ 1895. 8. 2 M.
Der Verfasser gebietet über noch größere psychologische
Kunst, ich möchte fast sagen Kunstfertigkeit als Hirschfeld
und weiß uns für den an und für sich abstoßenden Stoff,
das letzte Lebensjahr eines jungen Schwindsüchtigen, zu
interessiren, ja fast zu erwärmen. Wenn man bedenkt,
daß die recht umfängliche Novelle außer einer Neben¬
person uns nur die zwei Helden vorführt, ferner daß fast
nichts geschieht, so wird man gestehen, daß keine geringe
Kunst der Darstellung und der psychologischen Entwickelung
dazu gehört, um uns, wie dies thatsächlich der Fall ist,
fast bis zur letzten Seite in Spannung zu erhalten. Um
welches Problem es sich handelt, ist mit den eigenen
Worten des Helden am kürzesten wiedergegeben. Der
Arzt hat ihm gesagt, daß er nur noch ein Jahr zu leben
habe, die Geliebte, welche seine Tage und Nächte mit ihm
theilt und ohne den anscheinend Gesunden nicht glaubt
leben zu können, wie auch er mit aller Liebe an ihr
hängt, opfert dem Kranken nahezu ihre Gesundheit, bis
endlich der Freund und Arzt ihr räth, auch an ihre Ge¬
sundheit zu denken. Nun heißt es:
Eine verbissene Wuth wühlte in ihm. Er glaubte in Marie's
Zügen einen Ausdruck bewußten Duldens wahrzunehmen, der nach
Mitleid verlangte, und wie eine Wahrheit, an der zu rütteln ver¬
messen wäre, zuckte es ihm durch das Gehirn, daß ja dieses Weib
verpflichtet sei, mit ihm zu leiden, mit ihm zu sterben. Sie
ruinirt sich; nun ja, selbstverständlich! Hatte sie vielleicht die Ab¬
sicht, rothe Wangen und glühende Augen zu behalten, während er
seinem Ende zueilte? Und glaubt Alfred (der Arzt) wirklich, daß
dieses Weib, welches seine Geliebte ist, das Recht hat, über die
Stunde hinauszudenken, die seine letzte sein wird?
Sie soll mit ihm sterben, in diesen Gedanken lebt er
sich immer mehr hinein; in ihr aber, der Jungen, Ge¬
sunden, erwacht mehr und mehr die Lebenslust, und was
ihm das Natürliche scheint, dagegen empört sich trotz ihrer
Liebe jede Faser ihres Daseins. Wie diese Gegensätze
sich entwickeln, wie sie sich immer mehr steigern bis zu
einem Mordversuch des zum Tyrann seiner Geliebten ge¬
wordenen Sterbenden, das ist der Inhalt der Novelle.
Und wahr, geradezu entsetzlich wahr ist die Schilderung;
doch bleibt soweit dichterische Schönheit hierbei überhaupt
noch möglich ist, diese gewahrt.
Dee #a-
Cr
20 Jn=ig.
Sterben. Novelle von Arthur Schnitzler. (Berlin, S. Fischer.)
Ein trauriges und peinliches, aber ein feines und bedeutendes Werk
eines echten Künstlers. Das Sterben eines Schwindsüchtigen wird ge¬
schildert, sein Ringen mit Leben und Tod, das langsame Scheiden von
der Geliebten, die Empörung, das Aufbäumen, der Todeskampf. Jeder
Zug ist beobachtet und wahr, nichts übertrieben, dem Dramatischen wird
discret aus dem Wege gegangen, wie jeglichem schildernden Naturalis¬
mus. Das Zuständliche ist knapp, die Menschen ohne Individualisirung
gezeichnet — sie haben auch keinen Familiennamen —, aber die
Seelenanalyse ist voll feiner Züge, so daß uns weder Ekel noch Schauer
erfaßt und die rein menschliche Theilnahme his zuletzt rege bleibt.
Snd
62
M D
181 5
Sterben. Novelle von Arthur„Schnitzler.
Gertm. S= Fischer, 1895.
Kurglttf
Durch seine entzückenden satirischen Anatok=Dialoge und
sein sehr grau in grau gezeichnetes, aber interessantes Schau¬
spiel: „Das Mätzchen“ — ein modernes Seelendrama
hat sich der feinunnige Wiener Dichter bereits Namen und
Achtung erworben. Seine Novelle „Sterben“ ist den ge¬
nannten frühern Dichtungen ebenbürtig. In einem schmerz¬
lichen Seelengemälde führt uns Schnitzler die große ernste
Wahrheit vor Augen, daß der Todkranke und Sterbende,
auch wenn die aufrichtigste Liebe an seinem Bette wacht,
doch in dieser letzten Lebensnot ein Einsamer ist 1— denn,
wie schon Platen sagt:
„Es kehrt an das, was Kranke quält, sich ewig der
Gesunde nichts,
Es fragt die Welt nach meinem Ziel, nach deiner letzten
Stunde nichts.
Dies wissen alle, doch vergißt es jeder gerne jeden Tag.
Zwei Arten von Egoismus begegnen sich am Sterbe¬
lager, der des Sterbenden und der des Ueberlebenden.
Wohl haben sanfte Sitten, religiöser Sinn und — konven¬
tionelle Lüge verhüllende Schleier über dieses Verhältnis
geworfen. Aber das Auge eines Dichters wie Schnitzler,
durchdringt diese Schleier und zeigt die Menschen, wie sie
ind, nicht bloß, wie sie sich geben. Allerdings hat sich
Schnitzler für seine Novelle einen ganz besondern Fall aus¬
gesucht, bei dem die erwähnten Affekte stärker als gewöhn¬
lich hervortreten. Es handelt sich um einen noch jungen,
an der Auszehrung leidenden Mann, dem auf sein dringendes
Fragen ein Arzt die bestimmte Erklärung gegeben hat, er
habe kaum mehr ein Jahr zu leben. Von diesem Todes¬
urteil setzt er auch seine jugendliche Lebensgefährtin in
Kenntnis und nun belauert er sie bald mit immer steigendem
Argwohn, wie weit sie wohl in ihrer natürlichen Lebens¬
lust ihm bis unter den Thorbogen des Todes folgen werde
ob nicht sein Kranksein, die ganze Jämmerlichkeit des
Menschentums, die dabei zu Tage tritt, ihm ihre volle
Liebe rauben werde, noch bevor er die Augen für immer
schließt. Das Leben haßt den Tod. Auch der geliebte Ster¬
bende hat, bei vollem Mitleid, das sie ihm gönnen, für die
Ueberlebenden etwas Unheimliches. Dieses nur wieder als
Sterbender empfinden zum müssen, ist qualvoll. In der
Novelle folgt der Dichter allen diesen schwankenden, ein¬
ander ablösenden Gefühlsnüancen mit erstaunlicher Seelen¬
kunde; doch hätte seine Novelle größeren Allgemeinwert er¬
halten, wenn er gegen den Schluß den Konflikt nicht so
auf die Spitze getrieben hätte bis zum Mordversuch des
Sterbenden an seiner Geliebten, der er es nicht gönnt, daß
sie weiter leben darf, wenn er in den Abgrund hinab muß.
„Melancholische Lektüre! wird man sagen, gewiß! aber“
soll man hinzusetzen — „ein kleines feines Kunstwerk.“