I, Erzählende Schriften 3, Sterben. Novelle, Seite 19

3. Sterben
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den
neue Gebot“, ####
den 28.: „Der Verschwender“; Dienstag den 29.: „Bruder
Martin“.
„Sterben.“ Novelle von Arthur Schnitzler,
Berlin, S. Fischer, 1895. In „Anatol“ und in dem am
Deutschen Volkstheater aufgeführten Schauspiel „Das
Märchen“ hat Arthur Schnitzler, einer der begabtesten
Schriftsteller unter den Wiener „Modernen“, gezeigt, daß
das Schwergewicht seines Talents in der Stimmungs¬
malerei liegt. In viel höherem Grade noch, als in diesen
zwei Werken ist Schnitzler in seiner Novelle „Sterben“
dem hervorstechenden Zuge seiner dichterischen Natur gefolgt
Eine Novelle in dem Sinne, wie Paul Heyse diese
Kunstform charakterisirt hat, ist „Sterben“, allerdings
nicht. Schnitzler will seine Leser nicht durch eine
spannende, dramatisch zugespitzte Handlung fesseln.
Er behandelt auch nicht ein ungewöhnliches, psycho¬
logisches Problem und schildert ebenso wenig Charaktere
von eigenartiger Prägung. Alltägliche Menschen und
ein einfaches Vorkommniß genügen ihm vollkommen,
um seine Kunst der pfychologischen] Kleinmalerei in ihrer
Eindringlichkeit und) in ihrer Feinfühligkeit zu offen¬
baren. Der junge Schriftsteller Felix ist brustkrank. Er
weiß, daß ihn der Tod gezeichnet, daß er höchstens noch
ein Jahr zu leben hat. Er verkündet dies seiner Ge¬
liebten, und dann sehen wir ihn, von seiner
Marie betreut, allmälig sterben. Das ist die ganze
Handlung dieser Novelle. Blutwenig, nicht wahr? Aber
welche Fülle von Einzelzügen vermag Schnitzler aus diesem
einfachen Vorwurf herauszuspinnen! Wie versteht er es,
in die geheimen Regungen dieser beiden Seelen sich ein¬
zuschleichen und uns so allmälig unter seinen Bann zu
zwingen! Bei diesem peinlichen, in stiller Einförmigkeit sich
abspielenden Stoffe weiß er sogar ein gewisses dramatisches
Interesse zu erwecken! Dieser Sterbende macht nämlich
eine dreifache, wohl abgestufte Wandlung durch. Er ist
anfangs der interessante Kranke. Ein bischen blaß, ein
bischen hüstelnd, ein bischen melancholisch. Er kokettirt mit
dem Tode. So lange er sich in diesem Zustande befindet,
ist er vornehm, edel und zartfühlend. Den interessanten
Kranken liebt auch Marie mit der ganzen Gluth ihrer
Seele. Sie ist bereit, mit ihm zu sterben. In dem Maße
aber, als die Krankheit fortschreitet, erwacht in ihm die
Selbstsucht, der harte, rauhe Egoismus des Kranken. Er
findet es jetzt selbstverständlich, daß Marie sich für ihn
aufopfert. Es kränkt ihn sogar, daß sie noch rothe
Wangen hat, während er seinem Ende zueilt. Und auch
mit ihr ist inzwischen eine Wandlung vorgegangen. Ihr
Lebenstrieb ist erwacht. Sie spürt einen geheimen Schauer
vor dem Kranken. Ihr Mitleiden quillt nicht mehr aus
der Fülle eines liebenden Herzens. Und darum hat auch
ihre Rührung etwas Dürres, Welkes. Im letzten Stadium
seiner Krankheit wehrt sich Felix verzweiflungsvoll
gegen den Tod. Er will wenigstens den einen Trost
haben, daß sie zugleich mit ihm sterben wird. Aber
sie wendet sich angstvoll ab von ihm. In ihr
triumphirt das Leben. Sie ist denn auch nicht bei ihm,
als ihm der Tod die Augen schließt. — Es ist eine traurige
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Geschichte, in einem müden Tone erzählt. Schnitzler ist
Arzt. Aber die künstlerische Empfindung hat ihn davor
bewahrt, das Sterben in krasser, naturalistischer Weise dar¬
zustellen. Er wirkt durch Halbtöne, durch leise Anden¬
tungen. Aber er scheint bei all dem doch eine innerlich
etwas kühle Natur zu sein. Wenn wir die Novelle zu
Ende gelesen haben, athmen wir auf, aber unser Auge
feuchtet nicht jene Thräue, die nur ein warmfühlender
m. 5.
Dichter dem Leser zu entlocken vermag.

Insolvenzen.) Der Kreditorenverein meldet
folgende Insolvenzen: Lajos Kokay, Kaufmann in
börft
Lugos; Karl Prade, Kaufmann in Rumburg; Alois
Pazdersky, Kaufmann in Prag; Janaz Gerstl,] —
Titteratur.
Arthur Schnitzler. Sterben. Novelle. Berlin,
S. Fischers Verlag, 1895.
Nur ein Mediziner konnte dieses eigenartige Buch schrei¬
ben, ein Mediziner, der, wie der verstorbene Billroth es
gewesen, zugleich eine Künstlernatur, ein regelrechtes Stück
Poet ist. Der Titel klingt eher abstoßend, als verlockend.
Man denkt nicht gern ans Sterben und fürchtet sich wohl
gar vor dem gemalten Tode, und doch sind wir ja alle —
Buchverfasser, Rezensent und Leser — „zum Tode verur¬
teilt“, wie der wenig sympathische Held dieser psychopatischen
Novelle, die wir ihres interessanten Problems wegen in
einem Zuge durchgelefen haben. Das Thema ist so ein¬
fach als möglich: Ein alleinstehender Mensch, der den Keim
des Todes in sich trägt und von den Arzten aufgegeben ist,
sucht sich das ihm noch zugestandene letzte Lebensjahr so
gewinnbringend als möglich zu gestalten. Da er ver¬
mögend ist, so kann Felix, wie Schnitzler seinen Helden
nenut, sich gestatten, seinen siechen Körper von der Riviera
nach Salzburg, vom Großstadtgewimmel ins Dorfstillleben
zu schleppen. Und mit ihm, dem langsam Dahinwelkenden,
wandert das blühende Leben, seine Pflegerin und Geliebte
vor deren Augen die weite Welt noch als ein vielverheißen¬
der Paradiesgarten ausgebreitet liegt.
Marie, von ihrem Pflegling schlechtweg „Miez“ gerufen,
liebt ihren Felix mit all jener rührenden Aufopferung und
Selbstverleugnung, deren eine edle Frauenseele fähig ist.
Gewiß, sie wird bei ihrem kranken Seladon ausharren bis
er aus seinem qualvollen Zustand erlöst ist, aber dann?
Dieses Fragezeichen brennt unauslöschlich in dem Gehirn
des von der süßen Gewohnheit des Daseins mit jedem
Morgen aufs neue Abschied Nehmenden; wie, er sollte ins
Grab steigen und sie, die ihn zu lieben vorgibi, die ihm so
viel zu verdanken hat, allein, oder was noch schlimmer, für
In
einen andern auf dieser schönen Welt zurücklassen? —
einem Momente hochgradiger Erregung, von Angst und
Todesgrauen gefoltert, zwingt der vom Arzt zum Tode
Verurteilte seiner Mitdulderin das Versprechen ab, mit ihm
sterben zu wollen. Von schwellenden Mädchenlippen kommt
ein unüberlegtes, beschwichtigendes „Ja“ — womit dem
Verfasser Gelegenheit geboten ist, den tragischen Knoten zu
schürzen, der am Schluß der spannenden Prosa=Tragödie
insofern in befriedigender Weise gelöst wird, als Felix, der
später in seinem Sterbe=Paroxysmus seiner Geliebten nach
dem Leben trachtet, seinen Leiden erliegt, während seine
Kameradin dem Leben wieder gegeben ist.

Was Schnitzlers Buch für ernste Litteraturfreunde
und nur für solche kann es in Betracht kommen — lesens¬
wert macht, ist nicht die hier angedeutete traurige Hand¬
lung, die sich eigentlich blos zwischen „ihm“ und „ihr“ ab¬
spielt, sondern die souveräne Künstlerschaft, mit welcher der
Autor uns diesen peinlichen Kampf zwischen Tod und Leben
in allen seinen Phasen schildert. Eine Fülle von intimen
Beobachtungen sind auf diesen Blättern niedergelegt, in
denen übrigens auch die landschaftliche Schilderung eine
herverragende Rolle spielt. Mag auch der Stoff, den sich
Schnitzler ausgewählt hat, bizarr genannt werden, seine
Fassung ist vornehm und edel, wie denn überhaupt das
ganze Werk als solches uns einen tiefen Eindruck hinterlassen
hat, der uns dem nächsten Bande des jungen Wiener
Schriftstellers mit begreiflichem Interesse entgegensehen
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