I, Erzählende Schriften 3, Sterben. Novelle, Seite 28

Sterben
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Fühlen den tiefen Schatten wirft, dieselbe bange Empfindung der
Vergänglichkeit, die ihn von einem Ende der Welt zum anderen
begleitet. Und Tolstoj, der wunderliche Prediger, der zu Jasnaja
Poljana seinen Acker als Bauer pflügt und den Beruf des Künstlers
als sündigen Zeitvertreib verdammt, bekennt uns in seinen Büchern
die gleiche Leidensgeschichte. Von der ersten Zeile bis zur letzten
steht Alles, was er je geschrieben, unter dem Banne einer Idee,
die ihn stets mit eisernen Klammern festgehalten hat. Er hat nie
an Anderes gedacht als an den Tod und hat sich in jeder Stunde
seines Lebens für den Augenblick des Sterbens vorbereitet.
Es fehlt nicht an anderen geringeren Beispielen, die darthun
daß der Todesgedanke einen der Grundtöne in den literarischen
Harmonien des heutigen Tages bildet. Man hört ihn überall her¬
ausklingen wie ein wimmerndes Glöckchen von Maeterlinck bis
Gerhart Hauptmann. So darf man sich auch nicht wundern, wenn
man ihn auf einmal aus nächster Nähe vernimmt, in jungen
Büchern und dazu in Büchern, die in Wien geschrieben wurden,
wo man sonst nicht einmal das Leben, geschweige denn das
Sterben ernst zu nehmen pflegt. Es gehört zur Zeitstimmung,
daß unter dem Wenigen, was unsere jüngste Production zu ver
zeichnen hat, zwei Werke sich befinden, wie H. v. Hofmannsthal's
schöne Dichtung „Der Thor und der Tod“ und Arthur Schnitzler's
letzte Novelle „Sterben“.
Die Wahrheit, daß der Mensch sterben muß, ist nicht gerade
neu, und ein Buch, welches von dem Bilde des Todes ausgefüllt
wird, ist banal, wenn sein Autor nicht einen persönlichen Sinn
hineinlegt. Diesen Sinn bildet für die Einen bloß jene schauernde
Empfindung, von der sich die Freunde im Goncourt'schen Kreise
mit bleichen Gesichtern erzählten. Für Loti ist es — wie wir
schon auf dem Titel eines seiner Bücher lesen können: „Le live
de la pitié et de la mort:— eine weiche Rührung, das Mitge¬
fühl mit Menschen und Dingen, deren Dasein so kurz ist. Für
Tolstoj ist es mehr, eine ganze Lebenslehre, ein neues Christen¬
thum, das er aus dem einen Gedanken gezogen hat. Schrittweise
rückt er diesem Sinn in seinen Büchern immer näher. Er wieder¬
holt eine gewisse Situation mit zäher Beharrlichkeit. Bald ist es
in seinem gewaltigen Epos „Krieg und Frieden“ ein Officier, der
sich mitten in der Schlacht niedergeworfen hat, um einer Bombe
zu entgehen, und dann während einiger Augenblicke, die für ihn
eine Ewigkeit bedeuten, das verderbliche Geschoß neben sich nieder¬
fallen und im Kreise wirbeln sieht, bis es ihn zerreißen wird.
Bald wieder in der Novelle „Der Tod Iwan Iljitsch's“ ein cor¬
recter Weltmann, der sich beim Anbringen einer Portière im
Salon durch einen Sturz vom Sessel ein unheilbares Siechthum
zugezogen hat und nun monatelang auf seinem Krankenlager vor
sich hinbrütet, auf das Cnde wartend. Oder auch in seinem jüngsten
Werke „Herr und Knecht“ der Kaufmann Brechunow, der im
Schneesturm erfrieren muß und sterbend den armen Knecht Nikita
mit seinem Leibe vor der Kälte schützt. Stets ist es jemand, der
den Tod herankommen sieht, in seiner Gesellschaft eine zeitlang
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weilt und dem der unheimliche Gast zuletzt ein guter Freund und
Lehrer wird.
Die gleiche Situation bildet den Ausgangspunkt von Arthur
Schnitzler's Novelle „Sterben.**) Aber der Weg, den uns dieses
Buch führt, geht in gerade entgegengesetzter Richtung. Da ist ein
junger Mann, dessen Tage gezählt sind. Er ist schwindsüchtig und
der Arzt hat es ihm gesagt, daß er nur noch ein Jahr zu leben
hat. Dieses Jahr verbringt er in Gesellschaft seiner Geliebten, die
ihm eine aufopfernde Pflegerin ist. Die beiden leben in Wien,
dann einige Wochen im Gebirge, flüchten sich vor einem rauhen
Windhauch in die Stadt zurück und ziehen dann wieder nach dem
Süden, wo es rasch zu Ende geht. Wer sie sind und was sie
sind, erfahren wir nicht genau. An einer Stelle wird es flüchtig
hingeworfen, daß er ein Schriftsteller ist; sie dürfte eine kleine
Grisette sein. Auch ihre Physiognomien werden nicht gezeichnet,
sie verschwimmen in der Allgemeinheit, in der die Erzählung ab¬
sichtlich erhalten ist. Er ist nichts als der Sterbende, sie ist bloß
die Lebende. Und das Problem des Buches ist, zu zeigen, wie
das Verhältniß der beiden in der eisigen Atmosphäre des Ver¬
hängnisses langsam in seinen Wurzeln verdorrt, wie das Unver¬
meidliche sie unaufhaltsam von einander entfernt und wie der
Egoismus des Todes dem Egoismus des Lebens zuletzt in kalter
Feindseligkeit entgegentritt. Er liebt sie, und als er sein trauriges
Schicksal erfährt, will er sie zuerst in einer großmüthigen Regung
freigeben; sie schwört, vereint mit ihm zu sterben. Dann, als die
Hoffnung, an die sich jedes von ihnen in jenem Augenblick klam¬
merte, versinkt, wird es anders. Er hält sie krampfhaft fest; sie
fühlt dunkel, ohne es sich gestehen zu wollen, daß er ihr zur Last
wird. Langsam wächst in ihm der geheime Groll und Neid gegen
isie, die ihn überleben soll. Er ist es nun, der sie wie ein harter
Gläubiger an ihren Schwur mahnt. Einige Augenblicke vor seinem
Tode schnürt er noch die kraftlosen Finger um ihren Hals, um
Das ist nicht der
die Widerstrebende mit sich zu ziehen — —
milde Freund Tod, der die Menschen besser macht, sondern der
ihr
böse Tod, der ihre Seelen im letzten Krampf verzerrt, wie
Gesicht.
Dieses Buch konnte nur jemand schreiben, der das Leben sehr
liebt und vom Sterben nichts anderes zu sagen weiß, als daß es
eine traurige Sache ist. In dieser naiven und vielleicht auch ein
wenig trivialen Lebenslust spricht sich zugleich das Wienerische des
Buches und die Jugend seines Autors aus. Arthur Schnitzler
hat in seiner literarischen Physiognomie bisher überhaupt weniger
persönliche Züge gezeigt, als solche, die an sein heimatliches Milien
erinnern. In seiner Skizzensammlung „Anatol“ und in seinem
Schauspiel „Das Märchen“ ist er wienerisch durch seine leichte,
spielende Anmuth und durch die weichen, gemüthvollen Töne, die
er am besten trifft. Diesmal verbindet er mit jenen Eigenschaften
eine gereiftere Kunst der Darstellung, welche uns die Monotonie
*) Berlin, bei S. Fischer, 1895.