I, Erzählende Schriften 3, Sterben. Novelle, Seite 38

3.
Sterben
O . — 4 4 —a
box 1/2
Tod und Sterben.
363
dass sie nicht leben könne, wenn ihr Geliebter sterbe; sie selbst kettet
ihr Geschick an das seine und bleibt bei ihm, da er sie gehen heisst.
Dann aber, zuerst an einem herrlichen Sommermorgen am See, beginnt
ihr der Kontrast zwischen Leben und Sterben aufzublitzen, und nun wird
sie Schritt für Sebritt weitergeführt bis zum direkten Widerspruch gegen
die egoistische Forderung des Geliebten, ja bis zmr Flucht ins Leben, da
er sie mit in den Tod reissen will. Diese Kehrseite der Medaille zeigt
Sehnitzler und gewinnt dadurch eine Abrundung, einen künstlerischen
Abschluss des Motivs. Dombrowski wollte das eine Individuum im
entscheidenden Abschnitte möglichst allseitig psychologisch analysieren,
Schnitzler dagegen rang mit dem Problem und suchte es zu gestalten,
indem er es teilte.
Modern sind beide, Dichter sind beide, und doch wie fern sind sie
einander? weil sie beide in ihrer Heimat wurzeln. Es hietet einen ganz
besonderen Reiz, ihre Werke zu vergleichen. Das polnische erscheint,
wenn man se sagen darf, mälnlicher, aber auch härter, kondensierter
aber enger, das deutsche dagegen weiblicher aber weicher, runder und
weiter. Die „Studie“ hat etwas den Anstrich einer wissenschaftlichen
Leistung, die „Novelle“ ist ein Kunstwerk. Und doch wie himmelweit
stelit auch die „Novelle“ Selmitzler’s ab von Heyse's Meraner Novelle,
wie viel männlicher, natürlicher ist das Aufbäumen gegen die Todes¬
gewissheit als die weibliche Demut und Entsagungsfähigkeit bei Heyse.
Felix stemmt sich gegen das furchtbare Geschick, Marie unterwirft sich
wortlos dem Unbegreiflichen: Felix hadert mit dem Schicksal, das ihm
alles rauben will, Marie harrt bescheiden der Sturde, die sie erlösen
wird. Man sieht so recht deutlich, dass Schnitzler einer ganz anderen,
verschieden denkenden Generation angehört als Heyse; vielleicht zeigt
sich der Altersunterschied zwischen ihm und Dombrowski doch darin,
dass dieser radikaler die Wahrheit über die Schönheit tellt, Schnitzler
Wahrheit mit Schönheit zu vereinigen imstande war. Romanhaft, aber
für Sehmitzler charakteristisch, wie sein „Anatol“, seine „Liebelei“ be¬
weisen, ist die vollstündige Unabhängigkeit seines Helden. Sein Felix
hat kein Amt, keine Sorge um die Bedürfnisse des Lebens, er ist reich,
ein Lebemann, der seit einem Jahre Miez als sein „Mädel“ bei sich
hat: allerdings spricht er von seinen Arbeiten, wir müssen an dichte¬
rische denken, aber diese Arbeit ist für ihn nur eine weitere Lust am
Leben. Wenn er reist, lässt er sich ein Coupé reservieren, wenn es
nötig ist, mietet er eine Villa am See oder in Meran. Schnitzler musste
diesen Typur wählen, weil er zeigen wollte, wie schwer es ist, sich
vom Leben zu trennen, um so schwerer natürlich, wenn es so viel An¬
nelnnlichkeit bietet. Bei Dombrowski gehr die Frage „Was dann?“ so
weit, dass Rudnicki bangt, wie er werde leben können, wenn er durch
seine Krankheit alle Lektionen verliert und an der Ablegung seiner
24