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28. Die Schwestern-oderCasanowninSna
Wien
1-MWG
„Die Schwestern ober Casanova in Spa“ Ein
Lustspiel in Bersen Drei Alte in einem. Von Ar¬
(Uraufführung im Burgtheater am
hur Schninle n. Mürz 1930)
Lob dicht eingewickelt, ist die ideale Forderung, daß #
J aus dem Irrgarten der Liebe ein Weg ins Freie
gesucht werden möge, dem Schoßkinde der Kritik von
dieser schon in den halkyonischen Tagen vor 1914 oft,
nalürlich sehr bescheiden, präsentiert worden. Immerhin *
t, daß der Dichter sich ihr schließlich ein und das
andere Mul halben Herzens gefügt hat, aber nur, um *
alsbald wieber ausatmend in sein sonverän beherrschtes,
grenzunbewußtes Reich zurückzuflüchten, dessen himmlische
Gestalten nur nach Mann und Weib fragen. Hier hat er *
sich nun seit Kriegsbeginn förmlich eingegraben oder ver¬*
schanzt und bisher a'len Lockungen, Stellung zu nehmen“
beharrlich widerstanden: sehr zum Mißfallen junger und
jüngster Kritik, die jeden andern, der dasselbe getan oder I
eigentlich nicht getan, mit so harten Verdikten verschont #
hätte, wie sie der wohlerzogene Liebling der Grazien jetzt
täglich zu hören bekommt. Sein Fall ist eben ein beson¬
derer. Zwanzig Jahre lang sollte er durchaus den Dichter
Wiens, sogar Österreichs vorstellen (und war doch weder
925
926
Echo der Bühnen: Halberstadt, Leipzig
jenes noch dies, wollt' es vielleicht gar nicht sein) — nun ein Wunder tragen kann. Dies Wunder bleibt uns der
regt man sich darüber auf, daß er, gleich einem Größeren, Dichter freilich schuldig; an soviel vialettischen Haarspal¬
tereien (alles immer mit fünf multipliziert), an dieser
nichts geworden ist, sondern geblieben, der er war: ein
Scholastik der Liebe erlahmt schließlich auch seine gute und
feiner Künstler in engen oder meinetwegen weiten, aber
sichere Technik, und wiewohl formal die „Schwestern“ hinter
doch jedenfalls in scharf gezogenen Grenzen. Er hat es
während des Krieges in gewehnt eleganter Haltung ver¬
der Schwesternnovelle, einem Meisterstück der Kleinkunst,
schmäht, an dem Weltbrand breite Bettelsuppen für ein
laum zurückzustehen, wäre unz mit mehr Inhalt, weniger
groß Publikum zu kochen; wurde dies gebilligt, so finde
[Kunst besser gebient.
man sich nun auch damit ab, daß er weiterhin seinen
Robert F. Arnold
eigenen Weg, daß der Arzt an den Qualen einer Welt
vorübergeht, und verlange nicht von einem, den die Kritik
mit Gewalt zum representative man gemacht, daß er Re¬
peusertationspflichten genüge, von denen sein Herz nichts
weiß. Oder nichts zu wissen scheint?
Sehen wir denn wieder einmal zu, denken wir wieder
einmal darüber nach, comment elles se donnent. Als
zum Erempel: a hat mit h, der Gattin von c, ein nacht¬
liches Begegnen vereinbart, irrt sich aber in der Tür. viel¬
nehr im Fenster, und gelangt (ohne des Irrtums gewahr
zu werden) zu e, der Geliebten von e; allmählich klärt
sich der Sachverhalt für alle fünf Beteiligten auf, und
wir stehen vor nicht weniger ale fünf quälenden Fragen:
was sollen, was werden u, b usw. nun tun? Ein Fragen¬
kompler, dessen Schwierigkeiten sich steigern und auch wieder
mindern, wenn wir in jene Formel für a Casanova ein¬
setzen, weiland Liebling der Frauen, seit Anno Hofmanns¬
thal der Poeten; aber es bedarf noch einer Hilfsgröße 1,
einer ehemaligen Freundin des Abenteurers, Theatergöttin
ex machina, die, zu ihm zurückkehrend, alle Verwicklungen
k
löst: b bleibt bis auf weiteres bei e,
— bis auf weiteres, denn schon künden sich neue algebraische
Größen an.
Die geistreiche, doch ihres Geistreichtums allzu be¬
wußte Handlung ist Schnitzlers Eigentum; den vielbän¬
digen Memoiren Casanovas verdankt er nichts als ein
paar Namen und das glücksritterliche Milien. Ebenso
steht's um die wohl gleichzeitig #ustondene, etwas früher
(1919) veröffentlichte Novelle „Cchanovas Heimfahrt“,
in der sich die Schatten des Untergangs auf den dreiund¬
fünfzigjährigen Don Juan herabsenken, während er in
den „ Schwestern“ noch in seiner Sünden Maienblüte oder
doch Sommerreife steht. In der Novelle umarmt ei, für
einen anderen geltend, die Begehrte, im Lustspiel, unver¬
kannt aber verkennend, eine andere als die er begehrt;
dort schnelle Aufklärung und Katastrophe, hier ein an¬
mutiges Spielen hin und her und mit der Handlung selbst,
denn einer der Beteiligten, “, ist so etwas wie ein Dichter,
so daß die ganze Affäre aus dem Realen ins Literarische
hinübergleitet, eine bei Schnitzler nicht ungewohnte Wen¬
dung. Zum Verständnis der „Schwestern“ trägt die düstere
Novelle nicht viel bei; indes bewahrt sie uns davor,
die Philosophie oder, wenn das Wort hier gewagt werden
darf, die Moral des Lustspiels altzu ernst zu nehmen, den
Dichter selbst auf das ethische Sustem festzunggeln, das
Casanova seinem widerwilligen Adepten# in anmutigen
Versen vorträgt, während der Vorhang sich schon senken
will: dem erotischen Erlebnis gegenüber verschwinde jeder
Egoismus, jedes Monopolilierenwollen, jeder Wunsch nach
Alleinbesitz: alte für alle oder mindestens für einen, den
Tausendfassa; an Stelle eisersüchtiger Nivalität treie schwester¬
und natürlich auch brüderliches Verzeihen und Gewähren¬
lassen. Und die Treue? die gibt es ohnehin nur in der Jorm
der Heimkehr von
wir müssen uns nochmals algebraischer
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28. Die Schwestern-oderCasanowninSna
Wien
1-MWG
„Die Schwestern ober Casanova in Spa“ Ein
Lustspiel in Bersen Drei Alte in einem. Von Ar¬
(Uraufführung im Burgtheater am
hur Schninle n. Mürz 1930)
Lob dicht eingewickelt, ist die ideale Forderung, daß #
J aus dem Irrgarten der Liebe ein Weg ins Freie
gesucht werden möge, dem Schoßkinde der Kritik von
dieser schon in den halkyonischen Tagen vor 1914 oft,
nalürlich sehr bescheiden, präsentiert worden. Immerhin *
t, daß der Dichter sich ihr schließlich ein und das
andere Mul halben Herzens gefügt hat, aber nur, um *
alsbald wieber ausatmend in sein sonverän beherrschtes,
grenzunbewußtes Reich zurückzuflüchten, dessen himmlische
Gestalten nur nach Mann und Weib fragen. Hier hat er *
sich nun seit Kriegsbeginn förmlich eingegraben oder ver¬*
schanzt und bisher a'len Lockungen, Stellung zu nehmen“
beharrlich widerstanden: sehr zum Mißfallen junger und
jüngster Kritik, die jeden andern, der dasselbe getan oder I
eigentlich nicht getan, mit so harten Verdikten verschont #
hätte, wie sie der wohlerzogene Liebling der Grazien jetzt
täglich zu hören bekommt. Sein Fall ist eben ein beson¬
derer. Zwanzig Jahre lang sollte er durchaus den Dichter
Wiens, sogar Österreichs vorstellen (und war doch weder
925
926
Echo der Bühnen: Halberstadt, Leipzig
jenes noch dies, wollt' es vielleicht gar nicht sein) — nun ein Wunder tragen kann. Dies Wunder bleibt uns der
regt man sich darüber auf, daß er, gleich einem Größeren, Dichter freilich schuldig; an soviel vialettischen Haarspal¬
tereien (alles immer mit fünf multipliziert), an dieser
nichts geworden ist, sondern geblieben, der er war: ein
Scholastik der Liebe erlahmt schließlich auch seine gute und
feiner Künstler in engen oder meinetwegen weiten, aber
sichere Technik, und wiewohl formal die „Schwestern“ hinter
doch jedenfalls in scharf gezogenen Grenzen. Er hat es
während des Krieges in gewehnt eleganter Haltung ver¬
der Schwesternnovelle, einem Meisterstück der Kleinkunst,
schmäht, an dem Weltbrand breite Bettelsuppen für ein
laum zurückzustehen, wäre unz mit mehr Inhalt, weniger
groß Publikum zu kochen; wurde dies gebilligt, so finde
[Kunst besser gebient.
man sich nun auch damit ab, daß er weiterhin seinen
Robert F. Arnold
eigenen Weg, daß der Arzt an den Qualen einer Welt
vorübergeht, und verlange nicht von einem, den die Kritik
mit Gewalt zum representative man gemacht, daß er Re¬
peusertationspflichten genüge, von denen sein Herz nichts
weiß. Oder nichts zu wissen scheint?
Sehen wir denn wieder einmal zu, denken wir wieder
einmal darüber nach, comment elles se donnent. Als
zum Erempel: a hat mit h, der Gattin von c, ein nacht¬
liches Begegnen vereinbart, irrt sich aber in der Tür. viel¬
nehr im Fenster, und gelangt (ohne des Irrtums gewahr
zu werden) zu e, der Geliebten von e; allmählich klärt
sich der Sachverhalt für alle fünf Beteiligten auf, und
wir stehen vor nicht weniger ale fünf quälenden Fragen:
was sollen, was werden u, b usw. nun tun? Ein Fragen¬
kompler, dessen Schwierigkeiten sich steigern und auch wieder
mindern, wenn wir in jene Formel für a Casanova ein¬
setzen, weiland Liebling der Frauen, seit Anno Hofmanns¬
thal der Poeten; aber es bedarf noch einer Hilfsgröße 1,
einer ehemaligen Freundin des Abenteurers, Theatergöttin
ex machina, die, zu ihm zurückkehrend, alle Verwicklungen
k
löst: b bleibt bis auf weiteres bei e,
— bis auf weiteres, denn schon künden sich neue algebraische
Größen an.
Die geistreiche, doch ihres Geistreichtums allzu be¬
wußte Handlung ist Schnitzlers Eigentum; den vielbän¬
digen Memoiren Casanovas verdankt er nichts als ein
paar Namen und das glücksritterliche Milien. Ebenso
steht's um die wohl gleichzeitig #ustondene, etwas früher
(1919) veröffentlichte Novelle „Cchanovas Heimfahrt“,
in der sich die Schatten des Untergangs auf den dreiund¬
fünfzigjährigen Don Juan herabsenken, während er in
den „ Schwestern“ noch in seiner Sünden Maienblüte oder
doch Sommerreife steht. In der Novelle umarmt ei, für
einen anderen geltend, die Begehrte, im Lustspiel, unver¬
kannt aber verkennend, eine andere als die er begehrt;
dort schnelle Aufklärung und Katastrophe, hier ein an¬
mutiges Spielen hin und her und mit der Handlung selbst,
denn einer der Beteiligten, “, ist so etwas wie ein Dichter,
so daß die ganze Affäre aus dem Realen ins Literarische
hinübergleitet, eine bei Schnitzler nicht ungewohnte Wen¬
dung. Zum Verständnis der „Schwestern“ trägt die düstere
Novelle nicht viel bei; indes bewahrt sie uns davor,
die Philosophie oder, wenn das Wort hier gewagt werden
darf, die Moral des Lustspiels altzu ernst zu nehmen, den
Dichter selbst auf das ethische Sustem festzunggeln, das
Casanova seinem widerwilligen Adepten# in anmutigen
Versen vorträgt, während der Vorhang sich schon senken
will: dem erotischen Erlebnis gegenüber verschwinde jeder
Egoismus, jedes Monopolilierenwollen, jeder Wunsch nach
Alleinbesitz: alte für alle oder mindestens für einen, den
Tausendfassa; an Stelle eisersüchtiger Nivalität treie schwester¬
und natürlich auch brüderliches Verzeihen und Gewähren¬
lassen. Und die Treue? die gibt es ohnehin nur in der Jorm
der Heimkehr von
wir müssen uns nochmals algebraischer