II, Theaterstücke 25, Professor Bernhardi. Komödie in fünf Akten (Ärztestück, Junggesellenstück), Seite 106

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25. Professor Bernhardi
Die Berliner Theater.
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die Bedingungen der modernen Schauspielkunst. Ans dünkt schon der pathetische
Vortrag der französischen Tragöden oft unerträglich, wie unnatürlich würden uns
bald Maske und Kothurn erscheinen, die doch auf der Zirkusbühne unvermeidlich sind.
Diese akademischen Erörterungen sind über Erwarten schnell von einer praktischen
Frage abgelöst worden, welche die gesamte Theaterwelt in Aufruhr versetzt hat.
Die Kinotheater haben der alten Bühne eine Lebensgefahr bereitet. Sie drohen
ihr die Dichter und die Darsteller zu entführen. Ein Schauspiel für die Kinobühne
ist ausschließlich auf die Handlung und die Pantomime begründet, da ihr das
Wort versagt ist. In kürzester Frist folgt sich Tat auf Tat, jede muß für sich
selbst sprechen, aus der vorangegangenen sich mit Notwendigkeit ergeben und die
nächste vorbereiten. Dem Darsteller steht allein das Mienen= und Gebärdenspiel
zur Verfügung, seinen Charakter, seine Absichten, den Amschlag seiner Stimmungen
auszudrücken. Man braucht nur an die Monologe Hamlets und Jagos in Shake¬
speares Dramen zu erinnern, um den Unterschied zwischen der Kino= und der
alten Schauspielbühne zu kennzeichnen. Der alten Bühne bleibt darum die Dichtung
und die Menschendarstellung vorbehalten, dem Kino gehört die Wiedergabe der un¬
mittelbaren Wirklichkeit und Aktualität. In so umfassender und packender Weise,
daß es die Polizei für nötig befunden hat, ihr Grenzen zu ziehen: sie hat die Vor¬
führung von Mord= und Todschlagszenen im Film verboten. Mit Eroberungs¬
blicken betrachten Schauspieler und Dichter das neue Gebiet, das sich ihnen öffnet,
scheinbar mit unbegrenzten Möglichkeiten, sowohl des Darstellbaren wie des Ge¬
winnes. Ein erfolgreicher Film ist vielleicht noch einträglicher als eine siegreiche
Operette. Paul Lindau war wieder einmal durch einen glücklichen Zufall der erste
auf dem Plan. Sein Schauspiel „Der Andere“, aus dem Jahre 1893, welches
das Doppelleben eines Menschen schildert — während des Tages ist er ein be¬
rühmter Sachwalter, am Abend zieht er den halbzerrissenen Rock des Strolches an
und treibt sich in den Verbrecherkneipen umher — ist gleichsam eine Frühgeburt
des Films: eine dramatische Handlung, Verwicklung und Lösung ohne Worte.
Andere werden ihm auf der Bahn, die soviel verspricht, folgen: Gerhard Haupt¬
mann und Hermann Sudermann sollen von den Filmfabriken zur Mitarbeit auf¬
gefordert worden sein. Daß der Film einer künstlerischen Ausbildung fähig ist,
kann nicht bezweifelt werden, aber freilich ist die Gefahr, daß er sich gerade durch
die Leichtigkeit der Arbeit im Sumpf der Roheit, Alltäglichkeit und Niedrigkeit
verliert, größer als bei der Schöpfung eines wirklichen Schauspiels, dem das Wort
eine feste Schranke setzt. Dichter und Darsteller werden im Film zu der gemeinen
Deutlichkeit der Dinge gewaltsam hingetrieben, je brutaler die Handlung ist, desto
leichter wird sie von der Menge verstanden, je unedler die Gebärde ist, desto mehr
wird sie bejubelt werden. Diese Abelstände erscheinen unvermeidlich und die weitere
Entwicklung des Filmspiels wird davon abhängen, ob man sie einschränken kann
oder dem Absturz, hilflos gegenüber der Macht der Dinge, zusehen muß.
Man denkt unwillkürlich, daß diese Erweiterung des dramatischen Horizontes
durch die Freilichtbühne, den Zirkus und das Kino der literarischen Bewegung und
Produktion Anstoß und Anregung zu vielfachen Schöpfungen, wenigstens zu
Bühnenversuchen gegeben haben müsse, und sieht sich um so verdrießlicher durch
die Tatsachen enttäuscht. Das Repertoire der Berliner Theater ist seit Jahren zu
einer gewissen Anfruchtbarkeit und Einseitigkeit verurteilt: halb, weil den Direktoren
der Wagemut für das Neue fehlt, halb, weil sie die Literatur im Stich läßt. Und
wenn früher noch ein und ein anderes Stück, Wildenbruchs „Rabensteinerin",
Hardts „Tantris der Narr“, Schönherrs „Glaube und Heimat", Sudermanns
„Strandkinder“, eine längere Zeit die Teilnahme weckten und festhielten, so ist
diesmal ein solcher Ersatz von literarischer Bedeutung ausgeblieben. Denn die
Bilderreihe von Josef Lauff: Der große König", welche das königliche
Schauspielhaus seit einer Reihe von Wochen fast allabendlich aufführt, erhebt
darauf keinen Anspruch, sie will nur dem Patriotismus, der Schaulust und der