25. Professor Bernhardi box 30/1
Wedekinds eingesetzt hat, das sicher zu denen gehört, an denen
philisterhafte Angriffe noch am leichtesten abprallen, die aber auch
tiefe Probleme in schlagender Form behandeln. Im Falle „Kammer¬
sänger“*) konnte die Direktion sicher sein, daß sie schon durch
die ausgezeichnete Besetzung, die eine Menschendarstellung im Sinne
des Dichters verbürgte, im wahrsten Sinne des Wortes gewonnenes
Spiel haben würde. Sie konnte aber auch sicher sein, daß das Publi¬
kum, das durch jahrelange unermüdliche Arbeit immer mehr zu
künstlerischem Fühlen erzogen worden ist, dem Dichter, seinem Pro¬
blem und seinen Gestalten Verständnis entgegenbringen würde.
„Der Kammersänger' ist weder eine Hanswurstiade noch ein
Konversationsstück, sondern der Zusammenstoß zwischen einer
brutalen Intelligenz und verschiedenen blinden Leiden¬
schaften.“ Man konnte es nach dieser Aufführung, die aus den
„drei Szenen“ ein geschlossenes Drama formte, nicht für möglich
halten, daß sich der Dichter in seinem Vorwort von 1909 gegen
Verballhornungen nach der angedeuteten Richtung energisch hatte
wehren müssen. Die Dresdner Aufführung — ganz im Sinne des
Dichters ohne Striche, ohne die geringste Anderung — verkehrte
das resignierte Wedekindsche Motto (— je länger die Striche, desto
größer die Schauspielkunst! —) ins Gegenteil: „Je weniger Striche,
desto größer die Schauspielkunst!“
Knapper und zugleich treffender als es der Dichter getan hat, läßt
sich das Problem nicht auf eine Formel bringen. Es ist in der Tat
ein Zusammenstoß von Lebensmächten, von seelischen Triebkräften,
die einander nicht durchdringen können. Die Intelligenz des k. k.
Kammersängers Gerardo ist gefesselt, dienstbar geworden durch den
unerbittlichen Zwang des Kontraktes und durch die Ansprüche des Un¬
geheuers Publikum, das menschliche Rücksichten nicht kennt, wenn
es sich um seinen bezahlten Genuß handelt. In diesem engen Zirkel
würde der Heldentenor leben können, in der Kunst ein Gott, im Leben
ein Knecht, wenn nicht das Leben hereinlangen und kostbare Minuten
vom Künstler für sich verlangen würde. Es ist die Tragik des reprodu¬
zierenden Musikers, daß die Menge, der er sein Heiligstes in der Kunst
bietet, Menschliches, Allzumenschliches von ihm im Leben fordert.
Der Künstler hat nur die Wahl nachzugeben und seine Kunst nach
und nach zu opfern, oder mit rücksichtsloser Brutalität alle blinden
Leidenschaften, die ihn festhalten wollen, abzuschütteln. Gerardo hat
das letztere Teil erwählt. Wie fein ist die Steigerung der „Brutalität“
in den drei Szenen! In der ersten kann man dem Kammersänger
nur recht geben, wenn er sechzehnjährige exotische weibliche Selbst¬
anpreisung mit einer Photographie und guten Ratschlägen abspeist
(allerdings nur aus Mangel an Zeit! denn er muß morgen in Brüssel
den Tristan singen!). — Einem alten Komponisten, der in blinder
Liebe zur Kunst 50 Jahre seines Lebens an erfolglose Arbeit gesetzt
hat, dient er mit zynischen Schilderungen der unedlen Begleiterschei¬
*) Fünfte Auflage Georg Müller Verlag, München.
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Wedekinds eingesetzt hat, das sicher zu denen gehört, an denen
philisterhafte Angriffe noch am leichtesten abprallen, die aber auch
tiefe Probleme in schlagender Form behandeln. Im Falle „Kammer¬
sänger“*) konnte die Direktion sicher sein, daß sie schon durch
die ausgezeichnete Besetzung, die eine Menschendarstellung im Sinne
des Dichters verbürgte, im wahrsten Sinne des Wortes gewonnenes
Spiel haben würde. Sie konnte aber auch sicher sein, daß das Publi¬
kum, das durch jahrelange unermüdliche Arbeit immer mehr zu
künstlerischem Fühlen erzogen worden ist, dem Dichter, seinem Pro¬
blem und seinen Gestalten Verständnis entgegenbringen würde.
„Der Kammersänger' ist weder eine Hanswurstiade noch ein
Konversationsstück, sondern der Zusammenstoß zwischen einer
brutalen Intelligenz und verschiedenen blinden Leiden¬
schaften.“ Man konnte es nach dieser Aufführung, die aus den
„drei Szenen“ ein geschlossenes Drama formte, nicht für möglich
halten, daß sich der Dichter in seinem Vorwort von 1909 gegen
Verballhornungen nach der angedeuteten Richtung energisch hatte
wehren müssen. Die Dresdner Aufführung — ganz im Sinne des
Dichters ohne Striche, ohne die geringste Anderung — verkehrte
das resignierte Wedekindsche Motto (— je länger die Striche, desto
größer die Schauspielkunst! —) ins Gegenteil: „Je weniger Striche,
desto größer die Schauspielkunst!“
Knapper und zugleich treffender als es der Dichter getan hat, läßt
sich das Problem nicht auf eine Formel bringen. Es ist in der Tat
ein Zusammenstoß von Lebensmächten, von seelischen Triebkräften,
die einander nicht durchdringen können. Die Intelligenz des k. k.
Kammersängers Gerardo ist gefesselt, dienstbar geworden durch den
unerbittlichen Zwang des Kontraktes und durch die Ansprüche des Un¬
geheuers Publikum, das menschliche Rücksichten nicht kennt, wenn
es sich um seinen bezahlten Genuß handelt. In diesem engen Zirkel
würde der Heldentenor leben können, in der Kunst ein Gott, im Leben
ein Knecht, wenn nicht das Leben hereinlangen und kostbare Minuten
vom Künstler für sich verlangen würde. Es ist die Tragik des reprodu¬
zierenden Musikers, daß die Menge, der er sein Heiligstes in der Kunst
bietet, Menschliches, Allzumenschliches von ihm im Leben fordert.
Der Künstler hat nur die Wahl nachzugeben und seine Kunst nach
und nach zu opfern, oder mit rücksichtsloser Brutalität alle blinden
Leidenschaften, die ihn festhalten wollen, abzuschütteln. Gerardo hat
das letztere Teil erwählt. Wie fein ist die Steigerung der „Brutalität“
in den drei Szenen! In der ersten kann man dem Kammersänger
nur recht geben, wenn er sechzehnjährige exotische weibliche Selbst¬
anpreisung mit einer Photographie und guten Ratschlägen abspeist
(allerdings nur aus Mangel an Zeit! denn er muß morgen in Brüssel
den Tristan singen!). — Einem alten Komponisten, der in blinder
Liebe zur Kunst 50 Jahre seines Lebens an erfolglose Arbeit gesetzt
hat, dient er mit zynischen Schilderungen der unedlen Begleiterschei¬
*) Fünfte Auflage Georg Müller Verlag, München.
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