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Professen-Bernhandi
gaben. Das war die Schauspielkunst, die Brahm meinte. Aber
ihr Wachstum war in Frage gestellt, wenn diese echten Menschen¬
gestalter immer nur zu einer Mittagsvorstellung zusammenge¬
trommelt, wenn sie nicht auf einen Fleck versammelt und ohne
jede unkünstlerische Ablenkung in den Dienst Ibsens und Haupt¬
manns, in den Dienst einer positivistischen, lebenswahren Kunst
gestellt wurden. Die Entwicklung drängte zu einer Zusammen¬
fassung aller der Faktoren, die diese Kunst übten, und Brahm über¬
nahm 1894 das Deutsche Theater. Als er zehn Jahre später ans
Friedrich=Karl=Ufer übersiedelte, vollzog sich nichts als ein Wechsel
des Lokals.
In diesen achtzehn Jahren ist Brahm nicht allen Träumen
seiner Jugend, aber den Grundsätzen treu geblieben, die er für
sich selber aufstellen zu müssen geglaubt hat, um sich als Leiter
eines großen berliner Theaters zu behaupten. Er hat vom ersten
bis zum letzten Tage Ibsen und Hauptmann — und er hat im
ersten Jahre Hugo Lubliner, im letzten Leo Birinski und zwischen¬
durch Sudermann, Fulda, Dreyer und sogar Skowronnek ge¬
spielt. Zwei Seelen wohnten, ach, in seiner Brust: eine Kunst¬
und eine Kassenseele. Es war Brahms Glück und, in doppeltem
Sinne, sein Verdienst, ein paar Autoren zu finden, die entweder
der einen oder der andern und manchmal sogar beiden Seelen
zugleich Futter gaben. In der Wahl seiner Zugstücklieferanten
wurde er von Jahr zu Jahr weniger heikel; aber es blieb ihm
wichtig, ob die gewisse ideale Forderung, die für ihn eine rea¬
listische Forderung war, aufrecht erhalten werden konnte. Nach
dieser Forderung bewegte sich das Repertoire im immer gleichen
Kreise. „Hier wird nach den Regeln nur eingelassen.“ Wenn die
Autoren des Kreises sich zu ihrer eigenen Erholung ins Märchen¬
land zu retten suchten, so wurden auch diese Stücke aufgeführt,
weil sie von diesen Autoren stammten. Denn einem Autor,
dem es einmal geglückt war, folgte man lieber bis zur Erschöpfung,
als daß man es mit einem Neuling wagte. Das ging freilich
bloß solange, bis die europäische Dramatik über das enge Dogma
der Freien Bühne hinausgewachsen war. Der Tag erschien.
Brahm rührte sich nicht. Da drohte er gänzlich überholt zu
werden; und nun machte er die Entwicklung notgedrungen, also
ohne Ueberzeugung und deshalb mit bemerkenswerter Ungeschick¬
lichkeit mit. Er hatte die sicherste Hand, diejenigen Werke des
dramatischen Nachwuchses herauszugreifen, die keine Bühnen¬
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#drets
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gaben. Das war die Schauspielkunst, die Brahm meinte. Aber
ihr Wachstum war in Frage gestellt, wenn diese echten Menschen¬
gestalter immer nur zu einer Mittagsvorstellung zusammenge¬
trommelt, wenn sie nicht auf einen Fleck versammelt und ohne
jede unkünstlerische Ablenkung in den Dienst Ibsens und Haupt¬
manns, in den Dienst einer positivistischen, lebenswahren Kunst
gestellt wurden. Die Entwicklung drängte zu einer Zusammen¬
fassung aller der Faktoren, die diese Kunst übten, und Brahm über¬
nahm 1894 das Deutsche Theater. Als er zehn Jahre später ans
Friedrich=Karl=Ufer übersiedelte, vollzog sich nichts als ein Wechsel
des Lokals.
In diesen achtzehn Jahren ist Brahm nicht allen Träumen
seiner Jugend, aber den Grundsätzen treu geblieben, die er für
sich selber aufstellen zu müssen geglaubt hat, um sich als Leiter
eines großen berliner Theaters zu behaupten. Er hat vom ersten
bis zum letzten Tage Ibsen und Hauptmann — und er hat im
ersten Jahre Hugo Lubliner, im letzten Leo Birinski und zwischen¬
durch Sudermann, Fulda, Dreyer und sogar Skowronnek ge¬
spielt. Zwei Seelen wohnten, ach, in seiner Brust: eine Kunst¬
und eine Kassenseele. Es war Brahms Glück und, in doppeltem
Sinne, sein Verdienst, ein paar Autoren zu finden, die entweder
der einen oder der andern und manchmal sogar beiden Seelen
zugleich Futter gaben. In der Wahl seiner Zugstücklieferanten
wurde er von Jahr zu Jahr weniger heikel; aber es blieb ihm
wichtig, ob die gewisse ideale Forderung, die für ihn eine rea¬
listische Forderung war, aufrecht erhalten werden konnte. Nach
dieser Forderung bewegte sich das Repertoire im immer gleichen
Kreise. „Hier wird nach den Regeln nur eingelassen.“ Wenn die
Autoren des Kreises sich zu ihrer eigenen Erholung ins Märchen¬
land zu retten suchten, so wurden auch diese Stücke aufgeführt,
weil sie von diesen Autoren stammten. Denn einem Autor,
dem es einmal geglückt war, folgte man lieber bis zur Erschöpfung,
als daß man es mit einem Neuling wagte. Das ging freilich
bloß solange, bis die europäische Dramatik über das enge Dogma
der Freien Bühne hinausgewachsen war. Der Tag erschien.
Brahm rührte sich nicht. Da drohte er gänzlich überholt zu
werden; und nun machte er die Entwicklung notgedrungen, also
ohne Ueberzeugung und deshalb mit bemerkenswerter Ungeschick¬
lichkeit mit. Er hatte die sicherste Hand, diejenigen Werke des
dramatischen Nachwuchses herauszugreifen, die keine Bühnen¬
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