II, Theaterstücke 25, Professor Bernhardi. Komödie in fünf Akten (Ärztestück, Junggesellenstück), Seite 142

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25. ProfessorBernhandi
Der Morgen Wier
12.1912

Mayer seinem ehemaligen Freund Lueger zu: „Nicht, daß Sie
die Kunst, das kleinere Übel zu wählen. Wir müssen viel Böses
Antisemit sind, werfen wir Ihnen vor, sondern, daß Sie es nicht
dulden, um Böseres zu vermeiden, ja gerade das Kulturwidrigste
Bernhardi.
sind". (Nebenbei bemerkt, wurde die prächtige Selbstbiographie und
ist unbewußt der stärkste Hebel der Kulturentwicklung, wie
Stück von Dr. Friedrich Hertz.
Zeitschilderung, die Siegmund Mayer unter dem Titel „Ein
der wirtschaftliche Egoismus, Sklaverei, Ausbeutung, Krieg,
Schnihlers Werk: es hat für uns
jüdischer Kaufmann“ vor einem Jahr erscheinen ließ, und die im
rohe Genußsucht, entgeistigter Luxus und andere soziale Laster.
ines tatsächlichen Ereignisses, das
freiesten, gar nicht spezifisch jüdischem Geist geschrieben ist, von der
Selten aber war es dem rechtlichen und gereiften Menschen so
der täglichen Konventionen und
liberalen Presse ganz totgeschwiegen. Natürlich, wie taktlos schon
schwer genacht, mitzutun, wie in unserem heutigen Österreich.
Zusammenhänge offen legt, Sen¬
im Titel die peinliche Existenz von Juden zuzugeben!) Heute ver¬
Überall anderswo gibt es doch eine Anerkennung geistiger Werte
in manchem eine Gewissens¬
dingen sich ja selbst die frischgewählten „Rassenantisemiten“ den
und Autorität, eine stark eingewurzelte Selbstachtung und dies er¬
gelten nicht der Dichtung, ob¬
gutzahlenden Wiener Judenblättern als Hausschmöcke und werden
möglicht es in moralischen Krisen, in denen Parteileidenschaft und
hier auf neuem Feld die alte,
in den Sonntagsnummern dem Publikum neben Anatole France
Selbstsucht das öffentliche Bewußtsein verwirren, den Kampf gegen
igungskraft bewährt. Bei vielen
und Bernhard Shaw aufgetischi. Selbstverständlich wetteifern Anti¬
den Trug aufzunehmen. Unsere Empörung ist aber ohnmächtig
is das ästhetische zurückdrängen
semiten und Juden an „Objektivität“ gegen einander und treffen
und wehrlos. Die Schuld trifft in erster Linie die Presse, die von
en in Österreich aufzurütteln wäre,
sich im selben Gesinnungsschlamm. Die Juden sind ja nur ein
der kleinlichsten gegenseitigen Eifersucht zerrissen, einer kräftigen
Schicksal zum geschichtlichen Aus¬
Vorwand. Der Antisemitismus richtet sich nicht gegen sie, sondern
Aktion gar nicht fähig ist, überdies aber in steter Angst davor
gänzlich abgestumpfte Österreicher
einfach gegen jedes geistige Streben, das der allgemeinen Denk¬.
zittert, irgend einem populären Wahn zu nahe zu treten. Ebenso
hardi erlebt. Gerade erst hat sich
trägheit und gewissen besonderen Interessen unbequem wird.
verantwortlich sind Beamtentum und Volksvertreter. Die Auslese
ichkeit begeben, der einen neuen
Die größere Häufigkeit geistiger Bewegung bei den Juden erzeugt
dieser führenden Personen vollzieht sich unter den größten Opfern
stellt, nämlich die Hetze gegen das
nun den Anschein, als richte sich der Antisemitismus gegen die
an Selbstachtung und macht die Emporgekommenen unempfindlich
Kindererholungsstätte auf dem
Juden. Tatsächlich hat er die beispiellos geistige Verarmung un¬
gegen Recht und Vernunft.
jedem sozialen Terrain unterliegt
seres öffentlichen Lebens bewirkt, denn auch der nichtjüdische In¬
Von überzeugendster Wahrheit sind in Schnitzlers Stück der
der streberischen Frechheit, der
tellektuelle steht unter der Gefahr, aus der arischen Rasse ausge¬
Minister Flint, der die moralische Empfindelet, ja selbst das ge¬
noralischen Faulheit, die unsere
stoßen zu werden, wenn er sich eines selbständigen Gedankens
gebene Wort verachtet und nur dem Erfolge um jeden Preis nach¬
chen. Schnitzler schließt mit aller
schuldig macht oder die Sprache Goethes dem Schriftleiterdeutsch
jagt, und der sympathisch=zynische Hofrat Winkler, der die Quint¬
eutung aus, von der sich wohl
vorzieht. Ebenso selbstverständlich mußte der Wahn ererbter Supe¬
essenz bureaukratischer Lebenserfahrung in das Wort zusammen¬
geß, daß sein Werk ein antiklerikales
riorität, der den Persönlichkeitswert verneint, auch das Charakter¬
drängt, der Beamte könne nur ein Trottel oder ein Anarchist sein.
zwischen freier Menschlichkeit und
niveau der Offentlichkeit in stärkster Weise herabdrücken.
Unübertrefflich sind die verschiedenen Strebertypen nuanciert und
en gleicherweise sympathischen Ge¬
Schnitzler hat ein Bild Österreichs geschaffen, das in seiner
die Treulosigkeit der Intelligenz, besonders der jüdischen, die aus
rrers. Der begeisterte Verteidiger
schlichten Prägnanz und Tendenzlosigkeit erschüttert. Er empfiehlt
lauter Objektivität und Taktgefühl jeder gegen einen Juden ge¬
ben Schicksal getroffen wie der Ge¬
keine Lösung, aber er wird jedermann, dem die österreichische Gegen¬
richteten Intrige passive oder gar aktive Assistenz leistet.
ihre Sache mit den Mitteln ihrer
wart ein persönliches Erleiden ist, dazu helfen, selbst nach der
Wie schon im „Weg ins Freie“ wird auch im „Professor
eit, sie verweigern es aber sich
seinem Wesen entsprechenden zu suchen.
Bernhardi“ unsere Judenfrage aufgerollt, obwohl es eigentlich
rlogenen Parteihetze dienstbar zu
Auch wenn der Zensurverbot nicht beseitigt werden kann)
nicht nötig gewesen wäre, dem Träger der Titelrolle selbst jüdische
sollte doch ein Weg gefunden werden, das Stück für uns auf die
Abstimmung beizulegen. Trotzdem aber mit ... Recht, denn das
erter Eigennutz und Gehässigkeit
Bühne zu bringen. Dies könnte z. B. leicht in Preßburg geschehen.
heutige Österreich kann ohne diesen Zug gar nicht gedacht werden.
sönlichkeit, flacher Opportunismus
wo einst auch die „Weber“ zuerst gegeben wurden. Wenn die
Die Geistverlassenheit unserer Zustände kommt darin zum stärksten
allen Zeiten und auf der ganzen
Berliner nach Fürstenwalde fahren, um Weingartner zu hören, so
Ausdruck, daß unsere Politiker über diesen Punkt absolut nicht
ethes Wort sein Recht behält, aus
werden wohl auch genug Wiener mit Freude eine solche Gelegen¬
hinaus können, an dessen Relevanz doch kein Einziger mehr glaubt.
ernen, daß es jederzeit und überall
gebrauchen.
Bei den Klügeren war es übrigens immer so, schon in den An¬
wahrhaft Intellektuellen anderer
olitik im weitesten Sinn ist einmal fängen der antisemitischen Bewegung rief der tapfere Siegmund