II, Theaterstücke 25, Professor Bernhardi. Komödie in fünf Akten (Ärztestück, Junggesellenstück), Seite 219

10 JAN 1972
Teipziger Neueste Nachrichter
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Theater und Mulik.
Profesos, Bernhardi.
Komödie in 5 Akten von Arthur Schnitzler.
(Erstaufführung im Alten Theater, Leipzig, am 8. Jan.)
Nicht nur die Seele, auch die Kunst ist wahrlich ein „weites Land“.
in dem man täglich neu seine Wunder und Ueberraschungen erleben
kann! Dies neue Stück des Wiener Poeten, welch seltsames, tiefes,
aufwühlendes Erleben brachte es gestern in erster Linie — dem Kri¬
tiker; ja gerade ihm, der da saß und über allem starken inneren Be¬
rührtsein durch hohe geistige Werte doch mit dem kühl wägenden Ver¬
stande des Kunstrichters die Formen maß und abwog, die den Bau
dessen ausmachen sollen, was man ein Theaterstück, ein Bühnenkunst¬
werk nennt. ..
Durch fünf lange Akte sieht man es an allen Enden,
erkennt es immer klarer und unzweideutiger: welch ein, nach den
Regeln der zünftigen Theaterbaukunst dürftiges, ja schlechtes Stück
diese toternste Aerzte=Komödie ist. Ja man darf getrost sagen, daß
Schnitzler, am Zunstbrauch gemessen, kaum je ein salopper gebautes
Bühnenstück geschrieben hat. ...
Was es an äußerer Handlung
gibt, ist sorglich so ins Unaufdringliche verschliffen, so rein als „An¬
laß“ zur Entfesselung des Geistigen in die zweite Kulisse dem Hinter¬
grunde zugeschoben, daß man von einem Aufbau, von einem kunst¬
vollen technischen Knüpfen und Entwirren der Fäden des Geschehens
gar nicht reden kann. Es geht alles überaus natürlich zu, und der
Fall Bernhardi entwickelt sich äußerlich ganz im erwarteten Gleise.
Ein berühmter Arzt hat dem katholischen Priester den Zutritt zum
Sterbebett eines gefallenen Mädchens verweigert, um der Armen,
die keine Ahnung von ihrem bevorstehenden Tode hat, ihren seligen
Glauben an die Rückkehr ins Leben und damit die letzten hoffnungs¬
trunkenen Minuten ihres Erdendaseins nicht zu trüben. Diese Hand¬
lung impulsiver Menschlichkeit wird ihm nun von seinen Feinden und
Neidern zum Fallstrick gemacht. Eine politische Interpellation führt
zur Anklage wegen Religionsverletzung, der die Verurteilung zu zwei
Monaten Gefängnis auf dem Fuße folgt. Bernhardis Stolz will
seine Gegner bis zum Aeußersten treiben, er nimmt die Strafe auf
sich und verbüßt sie. Als er das Gesäugnis verläßt, hat sich die
Situation bereits völlig zu seinen Gunsten verändert. Den Regierung
ist der Fall Bernhardi durchaus fatal: und als zum guten Glück die
Kronzeugin, eine Krankenschwester, plötzlich ihre belastende Aussoge
in einer Eingabe ans Ministerium widerruft, da ergreift der Herr
Kultusminister mit Wonne die Gelegenheit — das heißt: er kommt
nicht dazu, denn Bernhardi ist dieser Reinwaschrummel ebenso zu¬
wider als die vorhergegangene Hetze. Ihm sind seine Ruhe und seine
Arbeit wichtiger
verbittet
sich das Wiederaufnahme¬
verfahren und läßt sich
den gewonnenen Erfah¬
rungen, die
er
von seiner geistigen Höhe herab nur
noch belächelt, genug sein ...
Das klingt, wenn man's so erzählen
hört, nach allerhand. Aber es ist nicht Sudermann oder Philippi, der
den Stoff in die Hände nahm, sondern Arthur Schnitzler! So gibts
keine dramatischen Explosions=Effekte, sondern „nur“ eine lange Kette
von blitzenden, funkelnden, sprühenden Dialogen, die den Fall von
allen für einen Menschen von Geist interessanten Seiten her tages¬
hell beleuchten. Also technisch ein Nach= und Nebeneinander von Dia¬
logen, eine aneinandergereihte Serie von Wortgefechten. Und dabei
das Fesselndste, Packendste, Imponierendste, was ich seit langer Zeit
auf der deutschen Bühne gesehen habe! Die Kunst ist ein weites Land ...
Inmitten dieser architektonischen Mängel steht ein König, ein
Beherrscher feinster geistiger und seelischer Offenbarungen, und führt
uns hinein in sein eigenes Reich, in sein Land der Geistigkeiten, des
scharfen Intellektes, des feinfühligsten Geschmacks und des über¬
raschend warmen menschlichen Fühlens. Was mir diesen
Wiener von Jahr zu Jahr, von Stück zu Stück lieber gemacht hat, die
ganz und gar aus der Zeit fallende feelische Wärme im Bunde mit
einer ebenso einzigartigen Vornehmheit in allem künstlerischen
Gestalten und Produzieren, das leuchtet aus diesem seltsamen Männer¬
stück, das seine Wahrheiten so wundersam sein vorzubringen weiß,
prachtvoll heraus. Und wie bezeichnend ist es, wenn am Schluß selbst
Bernhardi sich noch sagen lassen muß, daß er mit seinem Ueberzeu¬
gungsfanatismus eigentlich ein recht sonderbarer und gesellschafts¬
gefährlicher Heiliger sei — wie bezeichnend für Schnitzlers Art. Er
hat mit seinem Künstlertakt sehr wohl gefühlt: daß dieser Professor
im ganzen prächtigen Menschenreigen seines Stücks die einzige kon¬
struierte Figur (über den genannten Fall konstruiert) ist, und so be¬
kennt er das noch im allerletzten Augenblick vor sich selbst und vor uns.
Wenige Dichter leben in Deutschland, die sich solcher Objektivität rüh¬
men können. Und keinen kenn ich, der Schnitzler solch ein Stück nachzu¬
schreiben im Stande wäre!
Die Kostbarkeit hatte einen überraschenden Erfolg, nicht nur nach
dem brillant instrumentierten Sitzungsakt, sondern ebenso nach allen
übrigen Akten. Die vortreffliche Inszenierung (Herr Huth) und
Darstellung taten das Ihre dazu. Herr Decarli ließ die überragende
Geistigkeit Bernhardis in schönster Eindringlichkeit und Ruhe aufleuchten.
Seine Gelehrtenmaske war ungewöhnlich eindringlich und persönlich
angelegt. Aus dem Aerztekollegium ragten die Herren Hellmuth¬
Bräm, Huth, Heyse, Mamlock hervor. Für den phrasenreichen
Minister fand Herr Walter einen bei aller Stille doch genugsam
markanten Ausdruck. Den Priester sprach Herr Ingenohl in der
großen Unterredung des vorletzten Aktes wunderschön schlicht. Ein
Publikumstück ist diese Komödie nicht (darüber darf der Premieren=
erfolg nicht hinwegtäuschen!), aber eine Köstlichkeit für geistige Fein#
schmeiser, die wir dem Wiener Dichter sa bald nicht vergessen wollen!
12r. Egbert Deldys