II, Theaterstücke 25, Professor Bernhardi. Komödie in fünf Akten (Ärztestück, Junggesellenstück), Seite 547

Eh
Brünn Dienstag


man es bereits rieseln hört, werden der Komödie Schnitzlers
noch auf lange hinaus den Wert eines Kulturdakumentes ver¬
leihen. Denn das österreichische Antlitz kommt darin in seinen
typischesten Vertretern zu Wort. Bernhardi selbst ist vom
Dichter mit sichtlicher Liebe geformt. Ein Menschenfreund,
dem auch der geringste seiner Patienten ebenso nahesteht,
wie die erzherzogliche Klientel. Er gehört zu den geistig hoch¬
stchenden Kulturjuden, denen Österreich seit den Tagen des
Josef Sonnenfels intellektuell und materiell sehr viel zu dan¬
ken hatte. Resigniert schiebt er am Schluß den „Fall“ von
sich. Sein Freund, der köstliche Hofrat Winkler (Modell stand
Max Burckhard), durchschaut ihn wie sich selbst und den gan¬
zen Schwindel Österreichs, wenn er behauptet, daß „wir uns
doch innerlich nicht bereit fühlen, bis in die letzten Konse¬
quenzen zu gehen — und eventuell selbst unser Leben einzu¬
setzen für unsere Überzeugung. Und darum ist es das Beste,
g das einzig Anständige, wenn unsereiner sich in solche
G'schichten gar nicht hineinmischt." Er hätte im Falle Bern¬
hardi wahrscheinlich wie dieser gehandelt, aber da „wär'
ich halt — entschuldigen schon, Herr Professor,
— grad so
ein Viech gewesen wie Sie. Schnitzler vertritt — und das
hebt seine Komödie hoch über beschränkte Tendenz —, einen
ethischen Relativismus: Jeder hat von seinem Standpunkt recht.
Wie leicht und billig wäre es zum Beispiel gewesen, aus dem
Priester einen Zeloten zu machen. Schnitzler dagegen schreibt
eine Szene im vierten Akt, die dichterisch vielleicht die stärkste
des ganzen Stückes ist: Nach dem Prozesse reichen einander
Bernhardi und der Pfarrer in einem von reifen Erkennt¬
nissen erfüllten Weltanschauungsgespräch über dem Abgrund
ihrer Überzeugungen die Hand. Und die Worte: „Lassen Sie
uns — nicht hinabschauen — für einen Augenblick,“ spricht der
Pfarrer. Die komplizierteste Figur ist der Unterrichtsminister
Dr. Flint. Ein Opportunist. Aaalglatt schlängelt er sich durch
die Fallstricke und über die tückischen Versenkungen der
Offentlichkeitsbühne. Nur vor dem Ironiker Bernhardi wird
er stets unsicher. Ein Mann, der mit scheinbarer und im
Augenblick auch selbst geglaubter Überzeugung für etwas in
die Schranken tritt, sich vom Pathos seiner Worte fortreißen
lußt
sich plötzlich zu seiner eigenen Überraschung im Lager
der Gegner angekommen sieht und nun mit blitzartiger
Schnelle ihre Front zur seinen macht. An geistreicher So¬
phistik, den Stellungswechsel begreiflich zu begründen, fehlt
es ihm nicht: Bernhardi müsse einsehen, daß es im öffent¬
lichen Leben etwas Höheres gebe, als ein Wort zu halten:
„Sein Ziel im Auge behalten, sein Werk sich nicht entwinden
lasen.“
Diese Komödie mit ihren 16 Männerrollen erfolgreich
auf die Beine zu stellen, erfordert mehr als Durchschnitts¬
energie von Seite der Spielleitung. Herr Direktor Dr. Beer
hat mit der Aufführung wieder etwas ganz Hervorragendes
geboten. Abgesehen von dem prachtvollen natürlichen Ablauf
der Szenen, der in der erregten Sitzung des dritten Aktes
einen unübersteigbaren Höhepunkt erreichte, gelang es ihm,
st.
selbst aus den unbeholfensten und zaghaftesten Anfängern,
n
die notgedrungen auch für größere Rollen eingestellt wurden,
so viel herauszuholen, daß sie, mit einer Ausnahme, im Gesamt= 22
bild niemals unangenehm auffielen. Die Persönlichkeiten der
P
bunten Professorenschar traten scharf hervor und Besetzungen
wie die der Professoren Ebenwald mit Herrn Strauß
und Löwenstein mit Herrn Teller, deren Rollen man viel¬
leicht auf den ersten Blick vertauscht wünschen könnte, ent¬
schleierten sich im Lauf des Abends als notwendig im In¬
teresse einer sauch wirklich erzielten) künstlerischen Abdämp¬
fung der Gestalt Dr. Löwensteins, die sicher sonst allzu
prononziert geraten wäre. Der Erfolg des Abends und des
Stückes war stürmisch, so daß Dr. Beer nach dem dritten
Akt im Namen Schnitzlers danken konnte. Den Bernhardi
spielte Herr Zeisel mit den schlichtesten Mitteln als ge¬
radlinigen Gelehrten, der nur dann aus seiner kühlen und
mit Ironie durchsetzten Ruhe gerät, wenn Lüge und Schmutz
i
an ihm emporbranden wollen. Sehr eindringlich geriet ihm
die Szene mit dem Pfarrer des Herrn Fischer=Colbri.
Dieser überraschte durch die gezügelte, schöne Wärme, mit!
der er die Überzeugung seiner Gottgesandtheit vertrat. Diese
Leistung ist ein Beweis, was ein Darsteller an der Handsg
eines schöpferischen Spielleiters aus sich herausholen kann.
Aus dem Arztekreis ragten besonders hervor: Herr Le¬
19
noir, der aus dem Dr. Cyprian eine eigengeschnitzte, schnur¬
di
rige Figur machte, Herr Hartberg als Dr. Pflugfelder
de
voll pathetischen, beredten Schwungs, Herr Strauß als jo¬
le
val tückischer Dr. Ebenwald, der cholerische Dr. Löwenstein
w.
des Herrn Teller und der geschmeidige Hohlkopf Dr. Filitz
T
des Herrn Recke. Als Meisier in der Führung und Be¬
be
herrschung dialektischer Feinheiten erwies sich Herr Marlitz
an
(Unterrichtsminister Flint). Der Hofrat Winkler des Herrn
le
Götz war ein entzückend liebenswurdiger k. k. Frondeur. In
di
kleinen Rollen verdienstvoll Fräulein Gerl (Ludmillus sowie
n.
die Herren Maluschinsky, Ecker, Jamnitz, Färber
und Eisner. Unmöglich Herr Bortner als Verteidig##rig.
Dr. Goldental.
Margarethe.
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Brürner Zeitung
210K718·9
150 französische Professoren nach Siebenbürgen ent¬
sandt werden, um die französische Sprache in den
Schulen Siebenbürgens zu lehren.
(Asiatische Cholera.) In den letzten Tagen wur¬
den einige Fälle asiatischer Cholera in Lodz, Kowel
und Garwolin gemeldet. Amtlich wurde sichergestellt,
daß die Cholera aus Wolhynien eingeschleppt wor¬
den sei.
(Poulet und Benots) sind gestern früh um 7 Uhr
35 Minuten von Rom in der Richtung nach Saloniki
abgeilogen.
(Denikin hat die Bolschewiken bei Zarizyn ge¬
schlagen.) Die Kosaken haben den Don überschritten
und 1200 Mann gefangen genommen. Weiter gegen
Westen haben sie Kalas und Pawlowsk besetzt, wo¬
bei 2150 Feinde gefangen genommen wurden.
(Eine erfolglose Proklamation Lenins.) Man
meldet aus Zürich, 20. d.: Der „Neue Tag“ zitiert
eine Meldung der Moskauer „Pravda“, welche eine
Proklamation Lenins veröffentlicht, in welcher Ru߬
land zum Kampfe gegen die drohende Wiederkehr des
Zarismus aufgefordert wird. Es ist hiebei besonders
zu bemerken, daß sich diese Kundgebung indirekt auch
an die bürgerlichen Elemente wendet und in ihnen
Verbündete gegen den Zarismus sucht. Doch hatt¬
die Kundmachung nicht den gehofften Erfolg und
hat sogar bei einem Teile der Arbeiterschaft total
versagt, die eine bolschowistische Regierung verwirft.
Für einen weiteren Kampf hat die Rote Armee nicht
genug Munition, insbesondere nicht für schwere Ge¬
schütze.
(Maßnahmen gegen die russische Sowjetregie¬
rung.) „Die Republik“ in Wien zitiert folgenden Be¬
richt der „Ag. Havas“: In der Freitagssitzung des
französischen Ministerrates wurde die Zustimmung
zu den Maßnahmen gegen die Sowjetregierung ge¬
geben. Die französischen Kriegsschiffe im Baltischen
Meere wurden dem englischen Oberkommando unter¬
stellt.
(Die Blockade über Rußland.) Die „Wiener All¬
gemeine Zeitung“ schreibt: Dem „L'Homme Libre“
zufolge ist seit 25. Oktober die Blockade über Sow¬
jetrußland eine vollständige. Die Ententemächte rech¬
sien damit, daß durch die Blockade Rußland bis zum
Frühjahre von Bolschewiken befreit sein werde.
(Der Prozeß Caillaux) wird am Donnerstag be¬
zinnen.
(Die Weiße Armee) hat die Station Ligowa,
10 Werst von Peiersburg, erreicht. Die Wachen ha¬
sen die Eisenbohnbrücke bei Toswa auf der Strecke
ach Moskau in die Luft gesprengt. — Die „Vossi¬
che Zeitung“ meldet aus Krasnagorka, daß Peter¬
sof und Striolno von den Truppen Jndenic' ge¬
sommen wurden. Die Küsten des finnischen Meer¬
usens sind von Bolschewiken gesäubert. Die Trup¬
enabteilungen Jndenie' haben die südliche Vorstadt
zetersburgs erreicht, wo Straßenkämpfe stattfinden.
die englische Eskader ist in der Newa=Mündung ein¬
elaufen. — Eine amtliche englische Funkendepesche
neldet, daß nach der Säuberung der Stadt von
koten Truppen General Judenié in Petersburg
ingezogen sei.
Kunst, Wissenschaft und Literatur.
Deutsches
Wereinigte deutsche Theater.
Scheuspielhaus.) Sonntag wurde Artur Schnitz¬
fers seinerzeit durch die Zensur verbotene, kürzlich
aber freigegebene Komödie „Professor Bern¬
hardi“ aufgeführt und errang einen großen Er¬
folg. Der Titelheld, Direktor einer Krankenanstalt,
ein menschlich fühlender Arzt verwehrt einem die letzte
Llung bringenden Priester den Zutritt zu einer un¬
trettbar perlorenen Kranken, die sich jedoch den schön¬
sten Träumen des Wiedergesundwerdens hingibt,
welchen geheimnisvollen Zustand die Arzte „Eupho¬
frie“ enennen. Prof. Bernhandi liegt es selbstver¬