II, Theaterstücke 24, Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten, Seite 212

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24. DasLand
Die Zeit am Montag, Berlin
Ne 10 1911
Der neue Schnitzler
(„Das weite Land“ im Lessingtheater,
Schnitzler wird alt und behaglich; er fängt an, ermüdend zu
wirken. In seinem Stück-sagt semand: „Mit vierzig sollte man
erst anfangen, jung zu werden — da übersieht man erst seine
Chancen“. Auch bei Dichtern geht's zu rasch vorüber. Eine Dame
im Stück sagt ungefähr: „Alles gleitet so dahin“. Und indem sie
es sagt, empfindet man (mit Bezug auf das Stück) deutlich, nur zu
deutlich: Alles gleitet so dahin!
Durch fünf Akte wird (von Leuten, die mich in ihrer talmi=welt¬
männischen „Ueberlegenheit“ sehr kalt lassen, wie auch von absoluten
Trotteln) Tennis gespielt, geliebelt, geleidenschaftelt und schöngeistig
geplaudert. Berlin W. in Wien mit Abstecher nach den Dolomiten.
(Ein Akt spielt im Vestibül eines fürnehmen Dolomitenhotels.)
Diese Leute vereinigen sich, um zwischen den Geschäften und
beim Tennisspiel (oder auf dem Abstecher nach den Dolomiten)
hübsche Feuilletons zu plaudern. Was sie sagen, ist weder tief noch
geistvoll oder neu. Aber es ist gefällig und von höchst netter
Rundung. Etwa diese Note: Das Leben ist mal so — was
soll man machen! Oder: der veronkelte Wedekind. Oder: Kinder,
regt's euch bloß nicht auf! Aber, leider, regt man sich im weiteren
Verlauf doch auf.
Drei Akte sind, zuweilen amüsant, meist etwas dünn, ver¬
plaudert — da setzt es plötzlich noch dramatisch und mit Spannung
ein. Dem Herrn des Hauses, einem kleinen Napoleon der Erotik. 1
fallt es — nachdem er eben erst ein hübsches Liebesabenteuer glatt
erledigt hat — ein bißchen auf die Nerven, daß er mittlerweile
ebenfalls „der Dumme“ war. Er hat, als er von seinem Aben¬
teuer nachts nach Hause kam, mit eigenen Augen den jungen
Fähnrich ins Schlafzimmer seiner Frau einsteigen sehen. Aber er,
der Ueberlegene, der das Leben kennt, hat ihn nicht etwa bei der
er hat sich's unterm Fenster
Binde genommen; im Gegenteil
bequem gemacht und, in Naturempfindungen verkunken, tapfer aus¬
gehalten, bis der Jüngling seine Mission erledigt hatte. Und
dann hat er noch geschwiegen bis zum nächsten Tage, wo er den
jungen Herrn vor Zeugen beleidigen konnte. Hier setzt es ein: Sie
werden von mir horen! Bums. Duell.
Das aber ist des Pudels Kern und die Finesse der Schnitzler¬
schen Kavalierspsychologie: Der erotische Eroberer reizt den jungen
Mann (der nebenbei der Bruder seiner Liebsten ist) nicht, weil er
sich „entehrt“ fühlt — nein, so aufgeklärt, so überlegen ist er schon.
Sondern: weil dieser junge Dachs so frech war, ihn, den Mädelchen¬
Eroberer, „dumm zu machen". Er stellt dies selber triumphierend
fest. Und knallt den Fähnrich nieder. Am Schlusse steht er, „ein
entlaubter Stamm“, gebrochen da. Die Frau geht von ihm; die
Geliebte, die sich trotzdem zu ihm drängt, weist er zurück. Im
Hintergrunde „jauchzt“ sein Knd.
Das weite Land? Mir scheint, es ist nur ein Bezirk. Und es
ist nur ein Bezirk, überschaut von einem Dichter, dem es nicht ge¬
geben war, mit vierzig jung zu werden. Das aber fordert man
von einem, der sich im weiten Land auf einen Gipfel stellen und
sagen darf: Das alles will ich dir geben, wenn du niederkniest und
an mich glaubst!
Mlesophische Jalnitet erhatten son. Tux „
würde. Sittard war den Kantaten ein sehr temperament¬
voller Leiter. Er liebte vorwärtsgehende Zeitmaße und
kräftige Lichter. Unterstützt wurde er recht gut vom Kreuz¬
schor uns einem besonders zusammengesetzten Orchester.
Leider=assierte in der ersten Kantate dem Tenor ein be¬
dauerliches Versehen, das eine Zeitlang den Genuß der
*
Musik vergällte.
Theater und Musik
* Arthur Schnitzlers Weites Land (Berliner Brief).
[Die Seele ist ein westes Land“. In diesem Motto
perbindet Arthur Schnitzler die sinnvoll durch¬
Gesprachs¬
Lebensbahnen,
pinandergeschlungenen
promenaden und psychologischen Irrwege seines neuesten
Dramas, der fünfaktigen Tragikomödie „Das weite
Land“ die am Sonnabend im Berliner Lessing¬
heater die Erstaufführung erlebte. Die Aufnahme wer
kühl, wie das nicht anders zu erwarten ist bei einem Werk.
dessen tiefmenschlicher Kern von einem bunten Gehäuse
tragikomischer Gesellschaftssatire und wehmütig zarter
Dialogkunst umgeben ist, das eine merkwürdig unsichere
Technit, eine ins Unergründliche hineintastende Motivie¬
rung aufweist, das seine feinen Schönheiten und gebrech¬
lichen Reize so gar nicht an der Oberfläche trägt. Es
empfiehlt sich um so mehr, über dies vieldentige Drama
eines echten, nie ins Banale hinabgleitenden Dichters noch
einiges zu sagen, zumal da die Berliner Kritik, so weit ich
sehe, sich allzu sehr an die offenkundigen Unverständlich¬
keiten und schroffen Risse in dem so ungleichmäßig g
ponnenen Gewebe hält. Schnitzers eigentliches Problem
ist doch, mag man ihm auch noch so oft seinen Feminismus
und das „süße Mädel“ vorgehalten haben, der Mann, und
er versucht nun diesmal, alles Rätselhafte, Primitive, In¬
kommensurable der männlichen Psyche in seinem Helden.
dem genialen Fabrikanten, ausgezeichneten Tennisspieler
ind unwiderstehlichen Frauenverführer Friedrich Hofreiter
darzustellen. Aber es ist ein ganz unmögliches Beginnen,
in einem Herren unserer modernen Gesellschaft, in einem
Menschen der psychologisch so komplizierten Gegenwart jene
bbrutalen Urtriebe walten zu lassen, die dem stärkeren
Geschlecht von Anbeginn eigen waren. Daß des Mannes
Grundgefühl Untrene in der Liebe ist, sein. Lebenselement
Polygamie, seine Tugend rücksichtslose Kraft, sein Haupt¬
ziel Befriedigung seiner Leidenschaft, das ist uns seit
Kant so fremd geworden, daß es uns auch Nietzsche nicht
hat begreiflich machen können. Dieser Hofreiter, der seine
Frau beständig betrügt, dem besten Freund das Mädchen,
das dieser liebt, verführt, und dann schließlich den Lieb¬
haber seines Weibes ohne allen Haß und Zorn erschießt.
nur weil er nicht „der Dumme“ sein will, dieser:Typus
des Ewig=Männlichen konnte von Schnitzler nicht rein und
ungebrochen gestaltet werden. Sein eigenes Kultur¬
empfinden, das im Mann noch so viel anderes sieht, lehnte
sich dagegen auf. So schrieb er „Tragikomödie“ unter dieses
bitter ernste Stück und brachte zugleich in seinen Stil etwas
schillernd Zwiespältiges. Wohl ist der Mann eine tragische
Erscheinung, dessen Grundinstinkte über seine Kulter
triumphieren und ihre Schranken zerbrechen; es bleibt in
ihm etwas von der blinden Naturgewalt, deren letzte Be¬
dingungen keiner ergründet. Aber wenn er in unsere ganz
andere Welt gestellt wird, dann erscheint er verzerrt, weil
alle ihn nach deu geläufigen Motiven unseres Handelns
beurteilen, weil er selbst mit all seinen Außerungen in
diese Sphäre gebunden ist. Es wirkt nicht gerade er¬
schütternd, wenn das Einzige, was dieser lebensheiße und
lebensstarke Held tut, darin besteht, stets im Tennis zu ge¬