II, Theaterstücke 24, Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten, Seite 232

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Die deutlichste Nacherzählung der Schnitzlerschen
Tragikomödie wäre die unwahrste. Man muß sich anzu¬
Berliner Theaterbrief.
deuten begnügen, an welchen Exempeln Schnitzler seine
Einsicht bewährt, daß der Mensch, sofern er nicht die glück¬
Von Hermann Kienzl.
liche Primitivität einer Kraftnatur besitzt, weniger dem
Willen seines Herzens als einem Willen der Triebe
Von den dreizehn Paten, die Artur Schnitzlers
unterworfen ist. Volkstümlich gesagt: Die Leichtbeweg¬
Tragikomödie „Das weite Land“ am 14. Oktober aus
lichen handeln gegen ihren Willen. Ein Mann, eine
der Feuertaufe hoben, war einer das Berliner Lessing¬
Frau. Der Mann liebt nur diese Frau, die Frau nur
theater. Die Bühne Brahms hatte einen ihrer ganz
diesen Mann. Und müssen beide sich betrügen und zu
großen Tage. Diese Feinheit, Abgestimmtheit und Ver¬
Grunde richten. An den Schemen körperlicher Tugend
schlungenheit des Zusammenspiels kann nicht übertroffen
glaubt weder er, noch eigentlich sie; doch sind sie nicht stark
werden. Am Wiener Burgtheater z. B. ahnt man nichts
genug, das Gefühl gegen die Tücke der Sinne stolz auf¬
von der Vollkommenheit eines solchen Ensembles, von
recht zu halten. Sind es wirklich nur die Sinne? Das
der stillen Innerlichkeit und unbeirrbaren Natürlichkeit
Wort fälscht wohl schon wieder. Frau Genia scheint den
eines Stils, dem jeder theatralische Makel, ja fast schon
Ehebruch zu wählen, weil ihre Treue sie dem Manne ent¬
der Wunsch nach lauter Resonanz im Publikum genom¬
fremdet hat. So glaubte der Mann. Doch ihre Untreue
men zu sein scheint. Hinter der jüngsten Großtat des
erträgt er, der treulos=getreue Zyniker, nicht. Er schießt
Lessingtheaters schlich die Sorge: wenn es wahr werden
den jungen Fähnrich, das Opfer fremder Herzenswirrun¬
sollte, daß Dr. Brahm im Jahre 1314 sein Werk verläßt,
gen, nieder. Befreit ihn des gewalttätige Bekenntnis?
so wird das Sprichwort lügen, daß kein Mensch unersetz¬
Nein, jetzt erst hat er sich ganz verloren und die Frau
lich sei.
verloren. Ein Bankerott.
Warum gilt heute das erste Wort den Schauspielern?
Man muß die Freunde, da man sie nicht zur Offen¬
Weil es fast ein Wunder ist, wie sie, die dem Theater ge¬
barungsquelle des Lessingtheaters führen kann, auf das
hören, ein Stück, das seinem Wesen nach dem Theatrali¬
Buch verweisen. (Es ist bei S. Fischer, Berlin, erschienen.)
schen so unendlich fern ist, vor dem Theater bewahrten;
Doch — auch die Feinspürigsten, unter den Lesern wie
weil die Reinheit ihrer nachempfindenden Kunst ein Dich¬
unter den Zuschauern, werden in der verwirrenden Fülle
terwerk gerettet hat, das für die Bühnen im allgemeinen
psychologischer Details zu einem betrübenden Resultat ge¬
verloren ist. Der Name Schnitzler oder einzelne starke
langen: Exakt, wie die Mathematik, ist diese Psychologie,
Szenen mögen da oder dort einen Erfolg entschieden
die mit unbekannten Größen arbeitet; allzu exakt, als
haben. Doch ich spreche nicht vom Beifall (der in Berlin
daß sie für Leben gelten könnte, das immer unlogisch ist.
maßvoll und einmütig war); ich spreche von der künstleri¬
Ersonnen aus Lebensweisheit, nicht erlebt ist das Schau¬
schen Rettung.
spiel, ob es auch in einzelnen Teilen von Leben strotzt.
Ich liebe, ich bewundere sie, die unendlich zarte Hand
Schnitzlers. Ihr ist, wie der Hand eines genialen Ge= Schnitzlers grüblerischer Hang war stärker als sein Herz¬
schlag, die Eingebung schwächer als die kunstvolle Auf¬
burtshelfers (auch eines Künstlers unter Handwerkern),
eine seingliedrige Schlankheit und schonungsvolle Milde lösung. Deduktiv ist die Technik dieses Dramas, das die
Gesellschaft des Wiener Westens in überaus zahlreichen
eigen. Diese Dichterhand dringt tastend in die verschlos¬
senen Organe der Menschen ein, zu den Geheimnissen! Typen vorführt; Lurusweibchen, Hahnreie, Halbjung¬
innerster Wunden. Der Mensch weiß nichts von sich selbst. frauen, Modeschriftsteller, Sporttrotteln, Lebekünstler und
wie die Bazillenträger der Dekadenz alle heißen. Sie!
„Sollte es Ihnen noch nicht aufgefallen sein,“ sagt eine
sind interessant, nicht um ihrer selbst willen, doch dank
Person des Schauspiels, „was für komplizierte Suhjekte
dem melancholischen Sarkasmus ihres Dichters. In der
wir Menschen im Grunde sind? So vieles hat zugleich
Raum in uns! Wir versuchen wohl Ordnung in uns zu Genanigkeit der psychologischen Präparate erinmert
Schnitzler an Ibsen. Nur die Menschen Ibsens und ihre
schaffen, so gut es geht, — wir stellen Begriffe auf
Probleme sind von anderer Wichtigkeit.
geben Namen: Liebe — Haß — Eifersucht —, aber diese
Die Meisterspieler einzeln zu nennen, hieße hier
Ordnung ist doch nur etwas Künstliches.“
ihrer Gesamtheit den Ruhm entziehen. Doch gemäß den
Die Reflexion, mit der Schnitzler seinem Schauspiel
höheren Ansprüchen ihrer Rolle sei Irene Triesch
den Namen gibt („Die Seele ist ein weites Land,“
hervorgehoben, wundervoll in ihren klaren und leisen Di¬
setzt jener Dolmetsch noch hinzu) vergröbert schon den
stinktionen.
psychischen Naturalismus der Dichtung. Wie es an an¬
derer Stelle heißt: „Ich sagte es dir offen und deutlich,
so deutlich, daß es heinahe schon wieder nicht wahr ge¬
worden ist ...“