II, Theaterstücke 24, Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten, Seite 327

Wahl
Kra
Versi
Theater und Musik
G.J. W. München. Am Samstag gab es zwei „Urauf¬
führungen“zugleich — beide von literarischem Charakter, beide
von bekannten Autoren, obschon recht unterschiedlich in
Wert und Kaliber. Das Residenztheater brachte in der
neuerdings so beliebten Form der „gemeinsamen Urauf¬
führung" (mit der Wiener Hofburg und dem Berliner
Lessingtheater) den neuesten Arthur Schnitzler heraus,
die fünfaktige Tragikomödie „Das weite Land“; drüben
aber im nachbarlichen Schauspielhaus, kanteis homo novus
dramaticus, freilich auf anderen literarischen Aeckern längst
anerkannter Autor, Karl Ettlinger (das „Karlchen“
der „Jugend“), mit dem dreiaktigen Lustspiel „Die Hydra“
zu Wort. Ich besuchte die Schnitzlersche Uraufführung, von
Ettlingers „Hydra“ sach ich die erste Wiederholung am Sonn¬
tag. Während merkwürdigerweise das sehr sein konstruierte,
prachtvoll geistreiche Werk Schnitzlers das Münchener Pu¬
blikum nur zu lauem und flauem Beifall begeistern konnte,
hatte der derber zugreifende, kecke Satiriker Ettlinger ent¬
schieden mehr Glück bei der „Hydra“ — worunter das p. t.
Poblikum zu verstehen ist —; man berichtet mir, daß ihn
bei der Uraufführung wiederholt lebhaftester Applaus an
die Rampe rief, und auch bei der ersten Wiederholung scholl
der Beifall kraftig zur Bühne hinauf und rief auch diesmal
Ettlinger vor sein Publikum. . .. Arthur Schnitzlers Tragi¬
komödie trägt den stimmungsvollen und rätselhaften Titel
„Das weite Land“. Das klingt wie Musik, und das klingt
ein wenig verliebt und sehnsüchtig; man denkt an einen
Hügel, den man im Abendrot erstiegen und der eine weite
Schau gewährt über flaches Land zu unseren Füßen, von
Flußzügen belebt, mit Bäumen beladen, mit Dörschen be¬
sät Man träumt sich ein Haus mit weitem Blick und selt¬
samen Menschen und fremden Schicksalen; Schnitzler aber
meint etwas ganz anderes. „Das weite Land“ ist ihm die
Menschenseele, und zwar — versteht sich — „die Seele, die
liebt“. So ungefähr sagt das der alte Lebemann und Liebes¬
philosoph Dr. von Aigner, der nach einem bunten Leben,
das ganz den Frauen gehörte und das ihnen immer noch
gehört, droben am Veldeser Weiher in den Dolomiten ein
modernes Alpenhotel leitet. Er ist nur eine Episodenfigur,
aber eine prachtvoll gesehene, und da er über die Liebe
philosophiert, indessen die anderen Gestalten der Tragikomö¬
die die Liebe leben, ist er sozusagen der programmatische
Chorus des Stückes — er hat in der Oekonomie dieses Dra¬
mas eine Sonderstellung, wie sie auf der anderen Seite
der Dr. Franz Mauer, Arzt in Wien hat: der freilich in
einem anderen Sinn — er ist der einzige unter den etlichen
zwanzig Menschen, der durchaus „reinlich“ ist und von
amourosen Neigungen und spinösen Schrullen frei. (Herr
Ulmer, der diesen aufrechten Menschen zu verkörpern hatte,
leitete sich aus diesem erfreulich = erfrischenden Umstand
das Recht ab, ihn in der wohlgetroffenen Maske Schnitz¬
es fehlte nicht einmal die studentische
lers zu spielen
Schlägerschramme über dem linken Auge.) Episodensiguren
sind diese beiden: Aigner und Mauer. Aber Episodenfiguren
sind schließlich alle Schnitzlerschen Gestalten, die da über die
Bretter gehen, im Garten einer Badener Villa Tennis
spielen, flirten und ehebrechen, die in den Dolomiten auf
kecke Türme kraxeln und — flirten und ehebrechen. Sie sind
Episodenfiguren, wie ihre Taten und Schicksale Episoden
sind. mehr novellistisch aneinandergereiht als dramatisch ge¬
strafft, epische Erlebnisse, die schließlich nur in einem
Fall sich zu einem tragischen Konflikt steigern, ohne daß zu
einer Tragödie, wie sie schließlich aus dem Konflikt erwacht.
gerade ein zwingender Grund vorläge. Schnitzler empfand
das selbst und taufte sein Stück auf den Namen der Zwitter
und Wechselbälge: „Tragikomödie“. Die eigentliche Tra¬
gödie, d. h. die eigentliche Handlung, die zum Abschluß ge¬
bracht wird, beginnt erst im vierten Akt; was voraus¬
geht, das ist ein Konversationsstück, das beispielsweise ein
Schalk wie Otto Erich Hartleben zweifellos zu einem er¬
Handlung?
schütternd=komischen Ende gebracht hätte....
Ja, auch ein wenig (oder, wenn man des reichen episodischen
Nankenwerks gedenken will, auch viel) Handlung ist da. Sie
knüpft sich an die problematische Ehe eines Wiener Fabri¬
kantenpaares. Friedrich Hofreiter, etwa vierzig Jahre alt.
ist seit mehr als einem Dutzend Jahren mit der schönen Frau
Genia, die so um die fünfunddreißig sein mag, verheiratet.
Die beiden haben einen Buben, der drüben in England zum
jungen Gemtleman erzogen wird, und sie haben beide ihre
Liebschaften. Sie sind nicht geradezu leichtsinnig, die zwei.
aber Er ist nun einmal so „erotisch veranlagt", und Sie ist
unter seinem Einfluß und Vorbild, und weil sie sich an dem
eitlen Manne rächen will, „so“ geworden. Freilich ist Frau
Genia in ihrer Liebe immer noch idealer als ihr Gemahl,
sparsamer in der Quantität ihrer Liebschaften und wähle¬
rischer in der Qualität. Einmal war es ein russischer Klat
viervirtuose — den hat aber Hofreiter „zur Strecke gebracht“:
ein amerikanisches Duell, bei dem eine gewonnene Billard¬
partie den Ausschlag gab, ließ ihn verschwinden. Das ges
hört zur Vorgeschichte und zur Charakteristik. Dann, im
vorliegenden Fall, ist es ein Marinefähnrich, ein junger
Mensch von beiläufig zwanzig Jahren, der die erblühte Frau
erfolgreich liebt. Sie gibt sich dem seinen Burschen in
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Haneh Münchener Tagblatt
P. W. 100
K
München
I
„Das weite Land.“
Tragikomödie von Arthur Schnitzler.
Uraufführung am Reside
Die Handlung dieser Tragitomodie ist kurz
gesagt folgende: Der Fabrikant Hofreiter betrügt
drei Akte lang seine Frau, im vierten Akt revan¬
chiert sich seine Frau mit einem Marinefähnrich
und im fünften schießt der Fabrikant den Fähn¬
rich tot. Also das übliche Ehebruchsdrama ungefähr
von der Sorte, wie es uns die Franzosen von Zeit
zu Zeit herüberschicken. Nur daß Herrn Schnitzler
das dramatische Geschick fehlt, mit dem uns die
Franzosen manchmal über die Frivolität ihrer raf¬
finierten Machwerke hinwegtäuschen.
Auch dieses Stück ist — wie so viele andere —
nichts weiter als eine ziemlich durchsichtige Speku¬
lation auf die erotischen Instinkte eines gewissen
Publikums. Und damit man die Absicht nicht so
merkt, wird der Sache ein psychologisches Mäntel¬
chen umgehängt. So wie gewisse Ansichtskarten¬
händler ihre Nudidäten auch immer als „Kunst¬
werke“ ausschreien, damit die Polizei sie nicht kon¬
sisziert.
An sich interessieren uns nämlich der Fabri¬
kant Hofreiter und seine außerehelichen Seiten¬
sprünge gar nicht. Aber da kommt Herr Schnitz¬
ler und sucht uns diesen seichten Genießer und
elelhaften Knallprotzen als einen komplizierten Cha¬
ratter, als eine dämonische Helden= und Kraftnatur
hinzustellen. Er erzählt uns, daß die Menschen¬
seele ein „weites Land“ sei, in dem das Gute
und das Schlechte, die Treue und Treulosigkeit und
hundert andere Gegensätze dicht neben einander hau¬
sen. Hilft ihm aber alles nichts. Sein Held ist
und bleibt ein unangenehmer widerwärtiger Patron.
Und das Stück wirkt abstoßend, roh, brutal. So
wie Schnitzler uns die Menschenseele schildert, gibt
es in diesem „weiten Land“ nirgends liebliche
Täler und prangende Fluren, die der strahlende
Sonnenschein vergoldet, sondern nur finstere Ab¬
gründe, schaurige Schluchten und gefährliche Sümpfe.
Ein nebelgrauer Pessimismus schwebt über dem
Drama und man atmet nach dem letzten Akt ordent¬
lich auf, wenn man aus dieser stickigen Atmosphäre
herauskommt an die frische Luft.
Auch sonst ist das Stück ziemlich kitschig ge¬
macht. Die Handlung ist breit und dünn ausge¬
waltt wie ein Nudelteig. Es wird schrecklich viel ge¬
redet in diesem Drama. Einmal wird uns eine
halbe Stunde lang einzig und allein das Leben
und Treiben in einem Hotelvestibule geschildert.
Wenn wir so was sehen wollen, brauchen wir #
aber doch nicht ins Theater zu gehen. Auch ein
paar „Witze“ kommen in dieser Tragikomödie vor.
Jeder von ihnen löste bei den Zuhörern halbunter¬
drückte „An!“=Rufe aus. Was der Antor sonst
für Witz und Humor hält, ist weiter nichts als
ein abstoßender, ividerwärtiger Zynismus.
Am Sonntag, da wir das Stück sahen, fanden
die ersten Atte ziemlichen Beifall, der Applaus nach
den späteren Aufzügen galt aber wohl nur mehr
den Darstellern, unter denen besonders Herr
Steinrück als „Hofreiter“ und Frau von Ha¬
gen als „Genia“ hervorragten. Auch die übrigen
Mitwirkenden — wir nennen nur die Damen Mi¬
chalek und Dandler, sowie die Herren von
Jakobi, Ulmer und Graumann — gaben
sich mit den oft recht sonderbaren Phantasiegestal¬
ten dieser furchtbar geschraubten und konstruierten
Tragikomödie alle Mühe. Eine Mühe, die aller¬
dings einer besseren Sache würdig gewesen Päre.