II, Theaterstücke 24, Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten, Seite 405

box 29/1
II
24. Das weite Land
Bremer Nachrichten, Breiner
M6 10 1911
Das weite Land.
dann ist es das moderne Mädchen, das nur noch die
physische Unschuld an ihn zu verlieren hat.
Hamburg, 15. Oktober. Arrhur Schnthleks
Alles das sieht, hört, fühlt, weiß die Frau, die
neueste fünfaktige Tragikomödie „Das weite Land“,
ihren treulosen Mann ebenso intensiv liebt wie er
die am Sonnabend abend im Wiener Burgtheater,
sie. Auch vor ihr steht als Spiegelbild aus jener
im Berliner Lessing=Theater, in Prag, Hannover,
älteren Ehe deren weibliche Hälfte. Wie die zwei
Leipzig, Frankfurt und anderen Städten gleichzeitig
Männer, so haben auch die zwei Frauen darüber
aufgeführt wurde, hat im Deutschen Schauspiel¬
ihr Raisonnement. Von der älteren erfährt die
hause in Hamburg, im Gegensatz zu anderen
jüngere, daß nicht einmal ein Kind den verlorenen
Bühnen, eine günstige Aufnahme gefunden. Trotz
Mann, den man liebt, zu ersetzen vermag, daß solch
mancher Längen erzielte das Stück einen von Akt
ein Verlust unvergeßlich ist, und daß die größte
zu Akt sich steigernden Erfolg. Die Darstellung war
Liebe diejenige ist, die niemals verzeihen kann.
vortrefflich. Robert Nhil (als Fabrikant Hof¬
Aus diesen inneren, gefühlten und durchlittenen Er¬
reiter), Marie Elsinger (als seine Frau Genia)
fahrungen springt auch ihr eine Tat, eine Schuld
und die neuengagierte Schauspielerin Paula
hervor. Ihre noble Erscheinung, ihr seelischer
Silten als Erna Wahl) wurden mit der übrigen
Adel, ihre scheinbare Ruhe, und doch der unverkenn¬
Künstlerschar oftmals hervorgerufen.
bare Zug des Entbehrens — die Gigerln, die faden
„Das weite Land“ —
es soll die menschliche
Alfreds, die Leute vom Café Größenwahn gehen
Seele sein. Der Dichter stellt seinem Helden ein
daran vorbei; aber gerade auf tiefere, feinere
Spiegelbild entgegen; ein Ehebrecher von vorgestern
Mannesnaturen macht das Eindruck. Ein be¬
begegnet dem Ehebrecher von heute. Was jener da¬
freundeter Arzt bleibt nicht gleichgültig, doch da er
mals erlebte, erlebt dieser jetzt. Beide lieben nur

„kein Freund von Herzensschlampereien“ ist, so
allein die eigene Frau; aber weil wir Menschen
steht nichts daraus. Ein Künstler erschießt
sich
„komplizierte Subjekte“ sind, ist ihnen die wahre
ge¬
ihretwegen. Zuletzt erhört oder verführt die
Liebe nicht zugleich ein Grund zur Treue. Die Liebe
reifte Frau einen netten, jungen Burschen, eben
beider Männer wird durchkreuzt von Liebeleien. Die
den Sohn jenes älteren gegenbildlichen Ehepaares.
Liebe zur Frau ist „unendlich“ ist „Anbetung“:
Der Mann weiß alles, so wie sie von ihm alles
trotzdem gehr der Mann zu anderen Weibchen und
weiß. Nur das eine weiß sie nicht, daß er von
Mädchen. Im früheren Falle hatte sich die geliebte
ihrer „Revanche“ weiß, und daß er sie wahrhaft, daß
Frau vom ungetreuen Gatten losgesagt. Sie hatte
er sie allein liebt. Alles hätte in der Heimlichkeit
Ersatz in einem künstlerischen Beruf gesucht und
ihren Sohn zu einem tüchtigen, arbeitenden Men¬
bleiben können. Da plötzlich wirft der tieferregte
schen erzogen. Wie sich im jetzigen Falle die Frau
Mann dem Liebhaber vor aller Welt eine Beleidi¬
zum Betruge des liebenden Gatten stellt, ist schon
gung ins Gesicht und tötet ihn im Duell. Dazu
komplizierter und wird deshalb Gegenstand des
treibt ihn nicht der konventionelle Ehrenkodex, nicht
Dramas. Sie hat keinen Beruf, wie jene andere.
einmal das verletzte Ehrgefühl, sondern nur die
Auch ihr Söhnchen ist fern. Sie ist bloß eine Dame
elementarste Liebesleidenschaft. Und während alles
mitten in der Gesellschaft und eine vereinsamte
aus ist, ertönt die Stimme des hez kkehrenden
Frau. Rings um sie her die parfümierte Wiener
Knaben, der in einem einzigen Jubelgruß die zwei
Cottagewelt mit ihren Typen des Faden, des
Worte zusammenfaßt, die dem Kinde noch zusam¬
Blöden, des Geistreichen, des Molligen, des Ver¬
mengehören, die Worte: „Mutter! Vater!“ Der
derbten und Überfeinerten, des Luges und des
Knabe ist erst dreizehn Jahre alt. Noch dreizehn
Truges. Kreuz und quer wird durcheinander¬
Jahre, und er liegt vielleicht auch totgeschossen da,
geliebelt, und der Mann trotz der „unendlichen“, weil er sich mit der geliebten Frau eines geliebten
„anbetenden“ Liebe zur eigenen Frau, liebelt hinMannes einließ. Das ist die Perspektive, der Aus¬
und her; zuerst ist es das wogende Bankiersweib, blick in das weite Land.