II, Theaterstücke 24, Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten, Seite 414

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24. Das veite-Land
glücklicher Liebe in einen Abgrund springen kann." Er ver¬
Direktor stützt seine Erfahrung auf einen lebendigen und
steht sogar die bittere Ethik des Totschlags, des Selbstmords.
fruchtbaren Damenverkehr. Er ist kein Begriffenfeldt, dieser
Er begreift, daß er sich selbst gegenüber ein teilnahmsloser,
alternde Erotiker, der sei bequem eingerichtetes Dolomiten¬
ein ruhloser Fremdling gewesen. Die Stimme seines Kindes
Hotel als internationalen Harem betrachtet und „in jedem
führt ihn aufs neue dem Leben zu. Und da er noch immer
TirolerDorf mindestens 1 Kind hat,“ wie derGlühlichtfabrikant
kein Talent zu einem bußfertigen Moralisten hat, tröstet er
behauptet. Er ist „der Neuzeit entsprechend“ organisiert, wie
sich mit der wehmütigen Formel: „Das Leben ist zum Tot¬
man im Tone der üblichen Hotel=Inserate hinzusetzen kann.
lachen“. Nicht anders ergeht es seiner haltlosen Frau, die
Darum hängt er der nackten Wahrheit seiner praktischen
in der abenteuerreichen Villa zu Baden bei Wien auf ähn¬
Betrachtungen auch gern eine philosophische Boa um die
lichen Schleichwegen den prickelnden Segen eines geheimnis¬
Schultern. Eine Boa, die gar nicht wärmt, aber den
vollen Glücks ergattern möchte. „Man gleitet, man gleitet
verführerischen Akt (wie auf den Radierungen des pfiffigen
immer weiter; wer weiß, wohin“ ist ihre schlüpfrige Maxime.
Rops) mit psychologischen Linien umkleidet. Der Dichter
„Ich finde mich nicht mehr zurecht.“ Nur ein zwanzigjähriges
identifiziert seine eigene Ansicht nicht mit diesem kleidsamen
Liniengespinst, obzwar er aus den Reflexionen des pikanten
Mädchen, eine fortentwickelte, Hilde Wangel, die als Erna
Sprechers einen schwankenden Faden hervorzieht und zu den
Wahl durch die feinversponnenen Irrungen dieser Liebes¬
Titel=Lettern der Tragikomödie verwendet. Der Dichter will
komödie huscht, weiß sich mit der unbedenklichen Entschieden¬
nicht als Hoteldirektor, will nicht als Irrenhausdirektor, will
heit eines souveränen Temperaments zu behaupten. Und
nicht als Theaterdirektor fungieren. Aber er scheint doch
eine ältliche Schauspielerin, die in manchen Momenten den
anzudeuten, daß die Theaterspieler des Lebens mit ihren
hohen und freien Zug einer modernisierten Frau Kammer¬
Selbsttäuschungen
und
wahnwitzige Vorspiegelungen
herrin Alvig annimmt, läßt eine abgrundtiefe Herzens¬
auftreten,
ihre
die
Hotelgäste
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wie zufällige
güte (eine Herzensgüte aus Lebensweisheit und Weltver¬
ersten
Augenblick
beziehungslosen Naturen im
ständnis) in den unbefangensten und wärmsten Akzenten
zu erfassen glauben und tragikomischerweise daheim als
wirken. Wenn Schnitzler in seinem jüngsten Werke nur
Ehemänner, Gattinnen, Freundinnen, Kameraden über das
diese eine Gestalt geformt hätte, müßte ihm schon um
uneingestandene Verhältnis einer gegenseitigen Wesens¬
derentwillen der innigste Respekt aller empfänglichen Ge¬
fremdheit zeitlebens nicht hinauskommen. Diese unfrei¬
nießer sicher sein. Aber da ranken sich noch die unterschied¬
willigen Marionettenspieler, diese unwissentlichen Gefühls¬
lichsten Typen einer ungebundenen und komplizierten
narren bleiben Hotelgäste in ihrem selbstgeschaffenen Hause
Lebenslust um das tragende Gerüst des Dramas. Wer sie
und in den Boudoirs, Salons, Geschäftszimmern oder
böllig verstehen will, muß in Dichters Lande gehen oder die
Heiligtümern der angrenzenden Außenwelt, wo ihr unbe¬
Atmosphäre der früheren Schnitzlerstücke als entgegen¬
wußter Dünkel den scheinbaren Triumph einer wohlbe¬
kommende Stimmung mitbringen. Die Regie des Deutschen
gründeten Geltung feiert. Sie bleiben auch Hotelgäste im
Schauspielhauses (Carl Hagemann) sorgte für einen lau¬
weiten Lande ihrer Seele, wo
sie von unverstandenen
nigen und lustigen Gesamtton, ließ aber die mitschwingende
Empfindungen, von unbegriffenen Gedankenregungen,
Jbsen=Instrumentation nur in den letzten zwei Akten
von unbekannten Trieben und rätselhaften Instinkten oft
aufkommen. Franziska Ellmenreichs Schauspielerin,
plötzlich aus einem eingebildeten Gleichgemicht herausge¬
Robert Nhils Glühlichtfabrikant, Marie Elsingers Fabri¬
schleudert werden. Dann hilft keine „Contenance“. Dann
kantensfrau einten sich zu einem volltönigen Dreiklang, der
nützt keine gewohnheitsmäßige „Haltung“ die mit den Ver¬
aus den wohlgefälligen Akkorden einer dialektisch voll¬
legenheitsmitteln einer bissigen Ironie, einer „dämonischen“
endeten Konversation in die feelischen Tiefen einer er¬
Selbstsicherheit, einer zynischen Unverfrorenheit jeder tücki¬
greifenden Menschenoffenbarung hinablangte. Paula
schen Falle zu entrinnen sucht. „Mir kann nichts geschehen,“
Silten, die sich bislang nur in Kostümrollen auf wesens¬
das berauschende Evangelium, das nur verinnerlichten und
fremdem Gebiete vorgestellt hat, fand als Erna den wirk¬
demütigen Naturen dienen kann, bricht als läppische Phrase
samen Reiz einer klug gespielten Leidenschaftlichkeit. Carl
zusammen. Der brutale Lügenmensch, der mit den raffinier¬
Wagner, Hans Andresen, Margarete Otto=Körner, Ludwig
testen Heimsuchungen fertig geworden, sieht sich auf einmal
Brahm, Hans Pichler, Tony Heydorn, Emil Stettner, Otto
als hilfloses oder kindisches Opfer den primitivsten Mächten
Röhl Emil b. Dollen und Carl Sartory schlossen sich mit
ausgeliefert. Peer Gynt, der als romantischer Hochstapler
ergänzenden Wirkungen an. Nur Heinrich Lang, Konrad
den faustischen Weg vom Himmel durch Welt zur Hölle ge¬
Gebhardt, Paul Ellmar und Grete Herzfeld vergriffen sich
nommen, erkennt am Ende seiner Enttäuschungen und an der
in der geistigen Struktur ihrer Rollen. Ueber den allge¬
wiedergefundenen Schwelle seines Heims, daß er das Leben
meinen Erfolg haben wir gestern referiert.
vertan, daß er sein eigener Totengräber gewesen. Schnitzlers
Anton Lindner.
Glühlichtfabrikant, der sich von Ehebruch zu Ehebruch, von
—.—
Vorsicht zu Vorsicht, von Hinterlist zu Hinterlist dahinschleicht,
gibt im letzten Augenblicke, da es beinahe zu spät ist, seine
spielerische Anatolweisheit auf. „Plötzlich versteh' ich allen
Kunst und Wissenschaft.
Unsinn, über den ich mich früher lustig gemacht habe. Ich
A. 2. Altonaer Stadttheater. Der Klassikerzyklus
verstehe Fensterpromenaden, Serenaden, ich verstehe, daß man
des Altonaer Stadttheaters brachte nach Sophokles, Aeschy¬
mit gezücktem Messer auf einen Rivalen losgehn, aus un s los und Shakespeare den Spanier Lope de Vega, dessen dra¬ 1 C