II, Theaterstücke 24, Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten, Seite 429

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24. Das weite-Land
Es hat häufig genug den Anschein, als ob in den weiten Ländern 1 geht: alle Vor
Ein weiteres Chaos richtet Schnitzler in der Seele der Bantiersgattin :
in dieser Dau
der Seele kein Zusammenhang zwischen den einzelnen, widerspruchs¬
Adele Natter her. Adele wechselt ihre Liebhaber wie sie ihre Kleider
Elsinger
vollen Elementen bestehe. Und bei diesem äußerlichen Schein bleibt
wechselt, zugleich ist sie aber die beste, entzückende Hausfrau und Mutter,
Hern aufgelös
Schnitzter stehen. Diesen äußeren Schein gibt er mit seiner Beob¬
und muß von ihrem Gatten geliebt werden, obgleich dieser von den Extra¬
insbesondere
achtungsgabe, mit geistreicher Lanne, mit wissenschaftlicher Objektivität
touren seiner Frau genau unterrichtet ist. Trotz allem ist ihm
Milien, dessen
wieder. Er ist als Impressionist bewundernswert; aber er leuchtet nicht
die Frau unentbehrlich. Welches Chaos! Ein ferneres Chaos herrscht
zu fester Hal
in die Gründe des Geschehens. Er begnügt sich damit, die Vorgänge
in der Seele des Hoteldirektors von Aigner, der seine Frau wahrhaft
Frl. Elsinger
mit zarter Sorgfalt zu notieren und findet den Menschen haltlos, ein
geliebt, ihr aber trotzdem und beinabe gerade deswegen vor zwanzig
Für die resig
Spiel jedes Druckes der Luft, beweglich wie das Wasser. Aber auch für
Jahren die Treue gebrochen hat und geschieden worden ist, und der in
Frau. Ellm
die beweglichen Elemente gibt es eine Acro= und Hydrodynamik mit festen
jedem Tiroler Dorf mindestens ein Kind sitzen hat. Und noch ein
lungsmittel.
Normen. Weil Schnitzler ein feiner Beobachter der äußeren Formen,
Chaos beginnt zu werden in der Seele des jungen modernen Weibes
selbstoewußten
des farbigen Abglanzes der Dinge in unserer Zeit ist, ist er ein moder¬
Erna, das das Abenteuerliche, das Wunderbare, das Außergewöhnliche
ebenso treffli
ner Künstler. Als moderner Künstler hat er die Haltlosigkeit und
sucht und dem großen Don Inan Hofreiter in die Hände fällt, während
glücklich=ungli
Regellosigkeit, das Chaotische, Gewaltsame und Perverse unserer Zeit
sie von dem guten Doktor Franz Maurer, dem einzigen Menschen
geschäftlichen
in einem Spiegel'aufgefangen. Unserer Zeit? Vielleicht nur einer Ge¬
dieses Stückes, in dem teine Weitelandseele wohnt, als Frau be¬
gemütlich.
sellschaftsschicht in unserer Zeit, die keine Zeit mehr hat das Tragische
durch Frau
tragisch zu empfinden und die Komik des Geschehens voll auszu¬
gehrt wird.
fährlichen Als
genießen. Einer Zeit, die teilnahmlos an Gräbern steht, achtlos über
Wo sind wir in dieser Tragikomödie? Wurden wir wirklich in das
Leichen schreitet, auf die höchsten Bergspitzen klettert und höchstens nur
Unsinn der ##
freie und weite Land des Menschenherzens und der Menschenseele ge¬
dresen den
noch äußerlich sensationell bewegt, nicht innerlich erschüttert werden
führt? Freilich wohnen darin die seltsamsten und sonderbarsten
Arzt, der mit
kann. Die ganze Haltlosigkeit und Rastlosigkeit, die innere Unruhe
Widersprüche beisammen. Aber nur scheinbare Widersprüche. Vor
in diesem Sti
und
Freudlosigkeit der Großstadt pulsiert in diesem Drama,
der Intuition des Dichters lösen sich die scheinbaren Widersprüche auf
obgleich es die
letzte Forde¬
das höchst beachtenswert ist,
Frl. Sälten
in Harmonien, in ein streng gesetzmäßiges Gewebe von Ursache und
die letzten
sozusagen d
rung des Dramas nicht erfüllt: Es zeigt
Wirkung. Das seelische Gesetz soll sich dem Zuscha. r im Theater
Uebertreibüng
Ursachen dieser Rast= und Haltlosigkeit nicht auf. Aber ihre
offenbaren, und er steht dem Kunstwerk auf der Bühne gegenüber wie
einer Gebirg
Folgen erlebt der Zuschauer mit den Kindern dieser Zeit auf der Bühne.
dem größeren Kunstwerk der Natur: Er holt sich Erkenntnis und Er¬
Rollen fielen
Innerlich verödet, sich selber gleichgültig, frech und unbefriedigt, lebens¬
quickung aus dem weite Lande. Hier aber, bei Schnitzler, bemerkt der
und Pichle
unfroh, weichlich und ironisch bissig, wie der Hofreiter des Stückes tau¬
Zuschauer nur willkürliches und künstliches Marionettengetriebe. Die
meln sie dahin. Ihr Leben ist eine schwächliche, klanglose Tragikomödie
Personen sind Beispiele für die Theorie des Dichters, daß der natürliche
trotz aller verzettelter Kraft. An diesem Leben tragen sie samt und
Mensch chaotisch und absurd handelt, nur von instinktiven Augenblicks¬
sonders schwer; ihre Heiterkeit ist gemacht und künstlich. Die Bedeutung
regungen getrieben, insbesondere von einem übermächtigen Sexual¬

des Stückes liegt in dieser Spiegelung moderner, „weiter“ Seelen.
trieb gepeitscht, der schon deswegen unnatürlich und pervers ist, weil
bis zur!
Unter der Regie Carl Hagemanns ging die Uraufführung
er nicht als Mittel zum Zweck der Erhaltung der Gattung auftritt.
geringe*
des Dramas (allerdings gleichzeitig mit verschiedenen andere#großen
Von diesem natürlichen Triebe aus gelangt die menschliche Natur nicht
Duft des
Bühnen) am Sonnabend erfolgreich in Szene. Künstlerisch und äußer¬
gum Chaos. zur Polhandrie und Polygamie, sondern zur Liebe, zur
mertbar:
Einehe, zur Treue. Das Natürliche ist nicht das Chaos, sondern es ist
lich erfolgreich. Die Hauptdarsteller und der regieführende Künstler
Anprall I
mußten sich am Schluß wiederholt vor der Rampe zeige. Die Striche
das Gesetz. Weil die Gestalten Schnitzlers beinahe gesetzlos
größ
des Regisseurs waren im ganzen berechtigt, obgleich man an dem
handeln, wirken sie als Puppen, die an Trähten gezogen
Schu
Spiegelbild nicht gern etwas vermißt. Das geschriebene Stück ist sehr
werden. Hierhin und dorthin. Besonders aber zu immer neuem Ehe¬
lang. Die Wirkungen der Tragikomödie erschienen auf das Sorg¬
bruch hin allen moralischen Ideen und Regeln zum Trotz. Der Dichter
geistig
fältigste, Feinste und Wirksamste herausgearbeitet. Glänzend
glaubt vielleicht damit die Ungültigkeit und Unwirksamkeit dieser Ideen
Vollkon
des Fabrikanten Hofreiter von Herrn
die Figur
dargetan zu haben. Er dürfte auf einem Holzwege sein. Die Erfahrung
wurde
Mittel. D
Rhil gegeben. Die Gestalt erhöhte sich in dieser ebenso fein¬
leyr: etwas ganz anderes. Schon der alte Erfahrungsphilosoph Locke hat
zügigen wie großartigen Leistung zu einem symbolischen Repräsentan=geschliffenhei
das bemerli: „Moralische Ideen sind nicht weniger wahr und nicht
Charakter eis
ten unserer Zeit, der alle Tragik zur Tragikomödie wird, weil sie sich
weniger real, weil wir sie selber geschaffen haben.“ Schaffen mußten,
gens in Eri
selber in kritischer Ironie verhöhnt. Eleganz, Liebenswürdigkeit, Kraft,
um zusammen leben zu können. Moralische Ideen sind natürlich niazt
Partner am
künstlich. Künstlich und eine haltlose Fiktion ist die Konstruktion des Unwoiderstehlichkeit, brutale Energie unter gesellschaftlich abgeschliffenen
Formen, Rücksichtslosigkeit, Nervenschwäche, die dem Collaps entgegen¬
Chaos aus dem Kosmos.