II, Theaterstücke 24, Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten, Seite 436

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Das
24 iteLand
Das weite kand. 96.—
Deutsches Schauspielhaus.4 0
Die ganze dichterische Produktion Schnitz¬
släßt sich in bezug auf ihren geisten
*
eine Art naturwissenschaftlicher Formel
bringen. Sie lautet etwa so: befreit den Men¬
schen von dem dünnen Lack einer aufgezwunge¬
nen Kultur und ihr findet das Herdentier mit
allen Instinkten eines solchen; der Mann mehr.
polygam, das Weib mehr monogam veranlagt,
beide in ihrem Liebesleben von Natur aus ohne
Treue, ohne Beständigkeit, ohne Wahrhaftig¬
keit, und immer, bewußt oder unbewußt, auf
d
siche nach neuen Sensationen.
Der
Drang, immer wieder den keinen Triebmenschen
darzustellen, ist so stark in Schnitzler, daß man
in seinen Dramen und Novellen nur selten zu
erkennen vermag, wie der Mensch in Millionen
von Individuen seiner Gattung längst aus dem
Tier herausgewachsen ist und es gelernt hat,
seine Neigungen und Sehnsüchte mit dem Ver¬
stand zu beherrschen. Wo dann diese „sittlichen“
Menschen in Schnitzlerschen Dichtungen dennoch
auftreten, gleichen sie merkwürdigerweise Trot¬
teln und Sonderlingen, weil sie von der anders¬
gearteten Umgebung allzu sehr abstechen, oder
weil sie von der absoluten Mehrheit der Trieb¬
menschen erdrückt werden. Schnitzler ist der
Liebespsycholog in der zeitgenössischen deutschen
Dichtung, es ist ihm nicht möglich, das Welt¬
getriebe anders als nur unter einem erotischen
Gesichtswinkel zu sehen. Dabei ist er ein haar¬
scharfer Beobachter, nur wer die Augen absicht¬
lich schließt, wird leugnen, daß er die Wahrheit
schreibt. Die Menschen, die Schnitzler so unver¬
hüllt in all ihren Lüsten und in all ihrem wider¬
spruchsvollen Treiben vorführt, sind ohne Aus¬
nahme Wesen von unserm Fleisch und Blut, nur
verschweigt der Dichter meistens, daß ihnen un¬
gezählte Mengen „anders“, wenn man will,
„besser“ geartete, fortgeschrittenere Individuen
gegenüberstehen. Die Schnitzlerschen Dichtungen
sind also nicht ganz als Kulturbilder aufzufassen,
sie sind einzeitige Ausschnitte aus dem Leben
der Gegenwart, und wenn fie auch viele abso¬
lute Wahrheiten in bezug auf das Seelenleben
des Menschen enthalten, so fehlt ihnen doch zu
ganzen und lehrhaften Lebensbildern das
Gegengewicht, der Ausgleich nach allen Seiten.
Schnitzler hätte nie seine großen berechtig¬
#ten Erfolge errungen, hätte die Natur ihm nicht
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in seiner zersetzenden Beobachtungsgabe in ero¬
einem andern. Ein anderer liebt seine Frau
cis eine Anmut in der Wortführung verliehen,
zärtlich, was ihn aber doch nicht abhält, sich
ie ihresgleichen sucht. Leichtfüßig wie seine Ge¬
in fremde Liebesbande zu begeben, überdies
hichtchen, jenseit von Gut und Böse wie seine
zwingt ihn seine Wahrheitsliebe, den Abstecher
derrchen und Dämchen, die in verschwiegenen
seiner Frau mitzuteilen. Ein Bankier sieht mit
Liener Chambre separées „nachtmahlen",
zu, wie seine Gattin, als ob es so sein müßte,
cherzen, plänkeln, philosophieren und lieben,
von einem der Freunde zum andern wandelt,
sauptsächlich das letztere, sind auch seine gra¬
scheinbar ohne sich je über ihr Treiben ganz
ziösen Dialoge. Er ist ein Meister des fein¬
klar zu werden. Kurz, es ist ein wahres Durch¬
geschliffenen und pointierten Stils. Mit einer
einander von Liebeleien leichten und ernsten
Leichtigkeit, die sich nur noch bei den geschickte¬
Charakters, ein Gartenbeet, um keinen anderen
sten Franzosen vorfindet, gleitet der Wiener über
Ausdruck zu gebrauchen, das die seltsamsten Ge¬
die schlüpfrigsten und gewagtesten Situationen
wächse sprießen läßt. Jedes einzelne ist vom
und Gespräche hinweg, ohne zu verhüllen und
Dichter mit Sorgfalt behandelt. Er hat sich
ohne zu Zweideutigkeiten seine Zuflucht zu
bemüht, die Widersprüche aufzuzeigen,
in
nehmen. Man tut ihm übrigens Unrecht, wenn
denen alle diese Menschen
sich bewegen
man ihn mit irgend einem der französischen
oder in denen sie von einer höheren Macht,
Meister des Stils vergleicht, Schnitzler bedeutet
der Natur, d
nach Schnitzler mit dem
mehr als sie, er ist nicht bloß der Causeur, er
Chaos identisch ist, bewegt werden. Der Held
ist in Wahrheit der lachende Philosoph, er ist
ein absolut polygam veranlagter Mensch, der
der Psycholog, der nicht nur unterhält, sondern
darüber verzweifeln will, daß einer seiner
auch immer etwas zu sagen hat und durch seine
Freunde aus Liebe zu seiner Frau den Tod ge¬
sucht hat, und der es der Gattin beinahe zum
verblüffenden Wahrheiten und. Offenheiten zum
Vorwurf macht, daß sie jenen „in den Tod ge¬
Nachdenken anregt. Sicher ist jedoch auch dies,
trieben“ hat, knallt einen anderen Freund nieder,
daß viele Schnitzlersche Dichtungen ohne die
weil er das erreicht hatte, was dem andern
Gragie, mit der sie vorgetragen werden, un¬
genießbar blieben. Jede Plumpheit müßte ihnen
nicht gelungen war. Und zwar greift der Gatte
in einem Augenblick zum Revolver, der ihn selbst
verderblich werden, sie sind ganz auf den leich¬
ten Ton eingestellt, den Schnitzler sich geschaffen
untreu vorfindet. „Andere sind vielleicht an¬
hat, und der das vorstechendste Merkmal seiner
ders, ich bin amal so." Jeder Mensch eine Welt
Muse ist.
für sich. Es wäre schwer, eine geschlossene
Ordnung in dieses dramatische Gebilde zu brin¬
Auch die neue Tragikomödie „Dasweite
gen. Aus diesen Streiflichtern geht aber schon
Land“ die am letzten Sonnabend auch im
hervor, welcher Kunst es bedurft hat, um einen
Deutschen Schauspielhause eine
solchen Stoff nicht abschreckend wirken zu lassen.:
ihrer Uraufführungen erlebte, ist ein ichter Schnitz¬
Schnitzlers Hand war in dem Aufbau seines
ler, wenngleich diese Arbeit keineswegs zu den
besten Werken des Dichters gehört. Alle Licht¬
neuen Stückes nicht ganz glücklich. Die Stim¬
und Schattenseiten Schnitzlers finden sich hier
mungen wechseln zu häufig. Auch haben die
unlogischen Handlungen der Menschen dann
gehäuft, aber nicht ausgeglichen; zudem läßt
und wann etwas Gewaltsames, Naturfremdes.
die Technik des Stückes, früheren Leistungen
Die Frau, die mit Emphase bemerkt, „um mich
gegenüber, sehr zu wünschen übrig. Schnitzler
muß man lange werben“ ergibt sich eine Stunde
bietet diesmal kein festes dramatisches Gefüge,
später irgendeinem jungen Laffen. Dazu genügt
er würfelt vor unseren Augen eine Reihe von
Menschen durcheinander, von denen nur ein ein¬
kein plötzlicher Affekt. Der Mann, dessen gan¬
zes Leben eine Kette von untreuen Handlungen
ziger einen festen Halt im Leben gewonnen zu
ist, schießt den Liebhaber seiner Frau nieder,
haben scheint, alle anderen werden fast ganz
nachdem er selbst sie hineingetrieben hat. Auch
von ihrem Liebesleben beherrscht und taumeln
die szenischen Stimmungen schwanken allzu sehr
willenlos hin und her. Schnitzler bemüht sich,
hin und her. Drama, Schwank, Lustspiel und
vor unsern Augen in die Seelen dieser Menschen
schließlich Tragödie wechseln mit einander ab.
hinabzuleuchten, denn „das weite Land“, das
Die Technik ist auffallend nachlässig, zuweilen
ist eben die Menschenseele, die noch kein Wande¬
in modernem Sinne ganz unmöglich. Während
rer der Philosophie ganz durchmessen hat. Er
im Vordergrund minutenlange Gespräche ge¬
will zeigen, wie viele einander widersprechenden
führt werden, stehen hinten sechs, sieben Per¬
Leidenschaften, Sehnsüchte, Gefühle, Affekte und
sonen in stummem Gespräch, gleichsam als leben¬
Regungen hier nebeneinander Platz haben und
des Dulo. Der erste Akt mit seiner Entwicklung
daß man den Menschen, dieses komplizierteste
wirkt sehr spannend, der zweite bringt zweifel¬
aller Wesen, eben so nehmen muß, wie es ist
los noch eine Steigerung, aber der dritte, der
nicht wie die Moralisten es haben möchten. Um
in einem Gebirgshotel spielt, fällt, so amüsant
zu seinem Ziele zu gelangen, hat der Dichter
und interessant er auch ist, ganz aus dem Rah¬
die Probleme nur allzu sehr gehäuft, er führt
men, ist in einer ganz anderen Stilart ge¬
uns einen wahren Sumpf vor, der mit bunten,
schrieben und wirkt unorganisch. Die beiden
üppig wuchernden Blumen besponnen ist. Kein
letzten Akte wandeln das Stück, ganz wider jedes
einziges Geschöpf dieses Dramas ist so
ganz
Erwärten, zur Tragödie. Das Stück verdient
eigentlich „intakt" oder handelt nach den Ein¬
seinen tiefen Titel nicht ganz, aus dem weiten
gebungen der Vernunft, alle lassen sich ganz
Lande der Seele hat Schnitzler uns allzu viel
und gar von ihren Gelüsten treiben. Dadurch
Gestrüpp vorgeführt, keine starken, gewaltigen
erhält das ganze Stück einen ungesunden An¬
Bäume, keine dunklen Geheimnisse, nur un¬
strich, und da auch einzelnen Teilen der Dich¬
gehemmte tierische Triebe. Gestrüppartig ist
tung die gewohnte Grazie fehlt, gibt es Par¬
auch der ganze Charakter des Stückes geblieben.
tien, die brutal wirken. Geht man den Zettel
Herr Direktor Hagemann hatte das schwierige
durch, so findet man außer einem auf einsamer
Stück mit aller Diskretion herausgebracht. Eine
Höhe wandelnden Arzt auch nicht eine einzige
große Regiearbeit ist sicherlich nötig gewesen,
Hauptperson ohne dunkle Punkte. Der Held
um alle Härten abzuschleifen und den ganzen
hält es mit allen Frauen, nur die Pausen zwi¬
Umkreis des Werkes einigermaßen einheitlich zu
schen der einen und der andern füllt er
mit
gestalten. Sehr bestechend war das szenische
den Dingen aus, die das Leben sonst noch
Bild der ersten beiden Akte und das des letzten
bietet, seine Frau scherzt mit dem einen Freunde
des Mannes so lange, bis jener aus unglück= Bildes mit dem Ausblick in die Szenerie der
licher Liebe Selbstmord begeht, und ergibt sich i ersten Aufzüge. Den eigentlichen Helden der