II, Theaterstücke 24, Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten, Seite 440

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24. Das GeiteAa
Märlascher Sprecher, Bochun
16 10 1911 —


klamieren: es sind alles Komödien der Seele.
Feuilleton.
Und auch im „Weiten Land“ will uns der Wie¬
ner Arzt wiederum psychologisch kommen. Mit der
weichen, feinnervigen Hand tastet er die Psyche der
Neues Stadttheater Bochum.
Menschen ab, die, da sie Kinder dieser Zeit sind,
Eine Uraufführung.
nichts natürliches und ursprüngliches mehr haben
und von einer außerordentlichen Krausheit des Ge¬
Nirgends ließ sich der Beweis besser führen als
fühlslebens sind.
an der Bochumer Bühne: Man soll keine fünfaktigen
„„
was für komplizierte Subjekte wir Men¬
Schauspiele schreiben. Als Irthur Schnitzler es
schen im Grunde sind! So vieles hat zugleich Raum
tat, dachte er gewiß nicht an einen primitiben west¬
in uns —! Liebe und Trug . . . . Treue und Treu¬
fälischen Kulissenbau, dem er dennoch unter zwölf
losigkeit Anbetung für die eine und Verlangen
anderen Bühnen dann die Gunst der Uraufführung
nach einer anderen oder nach mehreren. Wir ver¬
seines neuen Werkes „Das weite Land“ zu teil
suchen wohl Ordnung in ums zu schaffen, so gut
werden ließ: Man wußte diesen Gnadenbeweis einer
es geht, aber diese Ordnung ist doch nur etwas
literarischen Größe indes nicht zu schätzen, und so
künstliches
Das Natürliche ... ist das Chaos.
wird Bochum unter besagtem Dutzend wenigstens
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die Seele ist ein weites Land
den Ruhm eingeheimst haben, daß es allein ein
Diese Erkenntnis der modernen Menschen gibt
leeres Haus bestellte. Auch eine Tragikomödie!
uns Schnitzler in seiner neuen Tragikomödie. Er
Die andere ist die Schnitzler'sche selber, das neue
legt sie einem der Helden in den Mund. Es klingt
Werk, also klassifiziert. Nachdem man nun in Bo¬
etwas wie Resignation hindurch, wie wehmütiges
chum Schnitzlers „dernier eri“ als erstes Lebenszei¬
Sinnieren. Und das ist ganz Schnitzler. Man muß
chen vernommen, müßte man sich hernach, um die
ihn, den neuen Gesellschaftskritiker, dem anderen,
Zufalls=Bekanntschaft zu befestigen, zu seinen ersten
Ibsen, gegenüberstellen, um den Kontrast vollends zu
Spuren zurückfinden. Wir entheben uns fast die¬
erfassen. Ibsen ist hart, streng, herb, wahr und
ser Pflicht, um den Rahmen nicht zu weit span¬
mannhaft: Schnitzler weichlich, klügelnd, erotisch,
nen zu müssen. Schon ward er groß genug in die¬
feminin. Er ist mehr Lyriker, freilich des Welt¬
sem #sm Schauspiel, in dem der Dichter in ein
schmerzes, als Dramatiker. Und bei aller Tragik,
gar „weites Land“ entführt. Der Titel ist viel¬
die er in Poesien um seine Figuren webt, huscht
deutig und wirbt zu krausen Gedanken. Versuchen
ein wenig Spott und Lachen mit unter. So ward
wir, uns Klarheit zu schaffen!
ihm die Neigung zur Tragikomödie, die in unseren
Also spielen wir Theater
Zeiten fast zur literarischen Notwendigkeit gewor¬
Spielen unstre eig'nen Stücke,
den: bei Schnitzler ist sie überdies psychologisch. Mit
Früh gereift und zart und traurig
Gefühlsstimmung und nachdenklicher Lyrik baut er
Die Komödie uns'rer Seele!
seine Szenen auf, die meist einen geistvollen und
Das Leben ist Theater! sagt Hugo v. Hoff¬
anmutigen Dialog nach französischem Muster aufwei¬
mannsthal in den hier zitierten Versen, die er Ar¬
sen. Ein wirkliches Drama ist selten daraus ent¬
thur Schnitzlers „Anatol“ voransetzte. Man könnte
standen, dazu fehlt diesem Poeten der Erotik und
die Strophe für alle Schnitzler'schen Schauspiele re= der feelischen Gemütsbewegungen die Kraft.


Auch im „Weiten Land“ ist Tragisches und Ko¬
misches bunt untermischt. Ueber der heiteren Sin¬
nenwelt, zu der das Wiener Milieu dem Dich¬
ter immer wieder den Rahmen leiht, lagern die un¬
heimlichen Schatten des Letzten nach allem Sorg¬
losen und Spielerischen: des Todes. Wir sind wie¬
der in der Wiener leichtlebigen Gesellschaft. Hugo
v. Hoffmannsthal schnitt aus der Altwiener Zeit
jüngst ein Kulturbildchen, als er Strauß das Buch
zum „Rosenkavalier“ schrieb. Schnitzler macht uns
mit der modernen Wiener Gesellschaft bekannt, der
er mit seinem leisen satirischen Lächeln den Spie¬
gel vorhält. Der Geist ist derselbe geblieben;
ist die Decadence. Wir lernen einen Fabrikanten
Hofreiter kennen, Herrenmenschen, Welt= und Lebe¬
mann. Siegernatur. Er streckt die Hände nach allem
aus. aber gefällt sich dabei in der Rolle des arg¬
wöhnischen Ehemanns. Die Gattin, Frau Genia,
ist komplizierter; gereifte kluge Frau mit perfekter
gesellschaftlicher Haltung; man muß den Schleier
lüften. um ihr Sinnenleben zu enthüllen. Die bei¬
den Ehegatten lieben sich, aber sie leben ob der ver¬
derbten Wiener Sitten nebeneinander her. Sie spie¬
len eine Art Vergeltungspartie, und dieses Moment
ist so stark in unserer Dichtung hier, daß wir ihr
lieber den klareren Titel „Revanche“ gegönnt hät¬
ten. Nun diese Revanchepartie ist von tragischen Ge¬
schehnissen umhüllt. Gleich zu Beginn erfahren wir,
daß sich
ein dem Hofreiterschen Ehepaar
befreundeter Klaviervirtuose erschoffen hat; der
Schatten dieses Toten lagert zwei Akte
hindurch über der Handlung, dann tritt
der Lebende in sein Recht: ein junger Marineleut¬
nant, den Frau Genia erhört. Hofreiter, der kein
Ehetrottel sein will, entdeckt es zufällig, stellt den
Gegner und knallt ihn im Duell nieder. Nach
heiteren Lustspielszenen umfängt uns wieder die Tra¬
gir. Friedrich, der alternde Herrenmensch, schoß in
dem Liebhaber seiner Frau die Jugend nieder, die tr