II, Theaterstücke 24, Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten, Seite 441

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24. D#, veite Land
klamieren: es sind alles Komödien der Seele.
Und auch im „Weiten Land“ will uns der Wie¬
ner Arzt wiederum psychologisch kommen. Mit der
weichen, feinnervigen Hand tastet er die Psyche der
Menschen ab, die, da sie Kinder dieser Zeit sind,
nichts natürliches und ursprüngliches mehr haben
und von einer außerordentlichen Krausheit des Ge¬
fühlslebens sind.
was für komplizierte Subjekte wir Men¬

schen im Grunde sind! So vieles hat zugleich Raum
in uns —! Liebe und Trug .. . . Treue und Treu¬
losigkeit ... Anbetung für die eine und Verlangen
nach einer anderen oder nach mehreren. Wir ver¬
suchen wohl Ordnung in ums zu schaffen, so gut
es geht, aber diee Ordnung ist doch nur etwas
künstliches ... Das Natürliche ... ist das Chaos.
die Seele ist ein weites Land
Ja
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Diese Erkenntnis der modernen Menschen gibt
uns Schnitzler in seiner neuen Tragikomödie. Er
legt sie einem der Helden in den Mund. Es klingt
etwas wie Resignation hindurch, wie wehmütiges
Sinnieren. Und das ist ganz Schnitzler. Man muß
ihn, den neuen Gesellschaftskritiker, dem anderen,
Ibsen, gegenüberstellen, um den Kontrast vollends zu
erfassen. Ibsen ist hart, streng, herb, wahr und
mannhaft; Schnitzler weichlich, klügelnd, erotisch,
feminin. Er ist mehr Lyriker, freilich des Welt¬
ein
schmerzes, als Dramatiker. Und bei aller Tragik,
die er in Poesien um seine Figuren webt, huscht
ein wenig Spott und Lachen mit unter. So ward
ihm die Neigung zur Tragikomödie, die in unseren
Zeiten fast zur literarischen Notwendigkeit gewor¬
den: bei Schnitzler ist sie überdies psychologisch. Mit
Gefühlsstimmung und nachdenklicher Lyrik baut er
seine Szenen auf, die meist einen geistvollen und
anmutigen Dialog nach französischem Muster aufwei¬
sen. Ein wirkliches Drama ist selten daraus ent¬
inte standen, dazu fehlt diesem Poeten der Erotik und
re= der feelischen Gemütsbewegungen die Kraft.
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er mit Ingrimm bei sich selber schwinden sieht.
Auch im „Weiten Land“ ist Tragisches und Ko¬
Der Schuß hat in Frau Genia den letzten Rest
misches bunt untermischt. Ueber der heiteren Sin¬
von Zuneigung ertötet. Hofreiter scheint gebrochen;
nenwelt, zu der das Wiener Milieu dem Dich¬
er sagt sich von allem los, auch von einem jungen
ter immer wieder den Rahmen leiht, lagern die un¬
begehrlichen Menschenkind, das sich ihm an den
heimlichen Schatten des Letzten nach allem Sorg¬
Hals geworfen. Da weckt den Zerknirschten der
losen und Spielerischen: des Todes Wir sind wie¬
Jubel des aus der Pension heimkehrenden Sohnes,
der in der Wiener leichtlebigen Gesellschaft. Hugo
der draußen nach Vater und Mutter in unschuldiger
Hoffmannsthal schnitt aus der Altwiener Zeit
v.
Kindesfreude ruft. Hofreiter findet sich wieder zum
jüngst ein Kulturbildchen, als er Strauß das Buch
Leben zurück; er wird es neben Frau Genia weiter
zum „Rosenkavalier“ schrieb. Schnitzler macht uns
leben mit dem letzten Rest seiner Siegernatur in
mit der modernen Wiener Gesellschaft bekannt, der
schaler gesellschaftlicher Konvention. Neben dieser
er mit seinem leisen satirischen Lächeln den Spie¬
Mittelgruppe füllt eine Buntheit von Menschen aller
gel vorhält. Der Geist ist derselbe geblieben; es
Art die Szene. Ein geschiedenes Ehepaar, die Eltern
ist die Decadence. Wir lernen einen Fabrikanten
jenes Marineleutnants, als Gegenstück; ein Arzt,
Hofreiter kennen, Herrenmenschen, Welt= und Lebe¬
Freund des Hauses, die einzige anständige Persön¬
mann. Siegernatur. Er streckt die Hände nach allem
lichkeit in diesem Milieu, das durch alle Typen der
aus. aber gefällt sich dabei in der Rolle des arg¬
Wiener Gesellschaft geschildert und belegt wird.
wöhnischen Ehemanns. Die Gattin, Frau Genia,
Aber alles ist zu weit gesponnen, das Bild ist
ist komplizierter; gereifte kluge Frau mit perfekter
zu breit angelegt, die Handlung nicht straff genug
gesellschaftlicher Haltung; man muß den Schleier
durchgeführt. Die ersten beiden Akte sind reizvoll¬
tüften, um ihr Sinnenleben zu enthüllen. Die bei¬
ster pfechologischer Stimmungsmalerei von seiner in¬
den Ehegatten lieben sich, aber sie leben ob der ver¬
timer Wirkung. Dann schiebt sich ein lauter, eigent¬
derbten Wiener Sitten nebeneinander her. Sie spie¬
lich überflüssiger Lustspielakt ein. Und in den letz¬
len eine Art Vergeltungspartie, und dieses Moment
ten Akten packt eine effektvoll geführte dramatische
ist so stark in unserer Dichtung hier, daß wir ihr
Spannung. Schade, daß der Dichter den Stoff
lieber den klareren Titel „Revanche“ gegönnt hät¬
in die fünf Akte verzettelte!
ten. Nun diese Revanchepartie ist von tragischen Ge¬
Für unser Schauspielensemble war dieser
schehnissen umhüllt. Gleich zu Beginn erfahren wir,
Ehepaar
Schnitzler eine interessante Gelegenheit, sich erst¬
ein dem Hofreiterschen
daß sich
mals im modernen Drama vorzustellen. Georg
erschoffen hat; der
befreundeter Klaviervirtuose
John hatte sich dieser Seelenkomödie mit liebe¬
Schatten dieses Toten lagert zwei Akte
voller Sorge angenommen und war ihr ein ver¬
hindurch über der Handlung, dann tritt
ständnisvoller Deuter. Diese Regietat enthüllte den
der Lebende in sein Recht: ein junger Marineleut¬
klugen und fein empfindenden Künstler, der in der
nant, den Frau Genia erhört. Hofreiter, der kein
Stimmungskunst der Moderne vertraute Wege geht.
Ehetrottel sein will, entdeckt es zufällig, stellt den
Wir beglückwünschen Herrn John zu dem Erfolg,
Gegner und knallt ihn im Duell nieder. Nach
den die trefflich gelungene Aufführung darstellte.
heiteren Lustspielszenen umfängt uns wieder die Tra¬
Die Gestalten dieser Tragikomödie waren völlig zu
gir. Friedrich, der alternde Herrenmensch, schoß in
dem Liebhaber seiner Frau die Jugend nieder, die treffend ausgelegt. es gab keinen verfehlten Griff