II, Theaterstücke 24, Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten, Seite 635

terlegin, so hätte er nicht die Schuld allein getragen.
Auf einer Bergpartie findet er sich mit Erna Wahl
zusammen, einem 20jährigen Mädchen, das ihn und
seine Reife, sein Fihlen und seine Intelligenz wie sein
meisterliches Tennisspiel schon lange geliebt hat:
nicht etwa die exaltierte Anhängerin freier Lüste oder
ein verhimmelndes Backfischchen, sondern impulsiv, in
den lodernden Flammen echter Leidenschaft versinkend.
Inzwischen hat Genia den jugendlichen Schiffsfähnrich
Otto v. Aigner erhört, dessen Eltern auch um einer
Liebessache willen, infolge des Starrsinns nicht ver¬
gebend, ausemander gegangen sind. Friedrich belauscht
Otto, wie er nächtlich das Schlafzimmer Genias ver¬
läßt, und — treib ihn, nicht aus Liebe zu Genia, son¬
dern aus verletzten Eitelkeit, durch den Vorwurf der
Feigheit zum Duell, just da, wo Genia Schluß machen
und dem Gatten ales gestehen will. Otto fällt, Fried¬
rich wird sich dem Gerichte stellen und dann weit weg
gehen. Erna will ihm folgen, sie gehört zu ihm, Fried¬
rich lehnt es ab, er hat jetzt Genta verloren, selbst aber
gehört er niemandem mehr, das überläßt er der Ju¬
gend. So greift Schnihzler hier an Probleme, die er
dann sechs Jahre später in seinem Einakterzyklus „Ko¬
mödie der Worte“ noch vertieft hat. Man muß das
Leben nehmen, wie es sich gestaltet, muß viel Ererbtes
und Traditionelles zurückzustecken, um dem Gedanken¬
gang Schnitzlers billigend folgen zu können, den er
trefflich „Tragikomödie“ nennt, und der lebendige,
frische, so von Gemeinplätzen reine und doch so ganz
natürliche Dialog gleitet wirklich mit uns darüber hin¬
weg. Eine stille Ivonie, eine Heiterkeit im Ernst bei
aller Tragtk! Und welche feine Menschenzeichnung!
Man nimmt die Längen, inobefendere den für die
Handlung zu breiten dritten Akt mit in Kauf.
Die Aufführung war vortrefflich; Brandts be¬
währte Hand hatte so ziemlich jeden der zahlreichen
Mitwirkenden an den richtigen Platz gestellt und jeder
— soweit as seine Eigenart zuläßt — gab sein Bestes.
Behalten wir die Gesellschaft beisammen, so sind die
Einflüsse der sommerlichen Gäste auf Darstellung und
Spielleitung, zumal bei künstlerischen Persönlichkeiten
wie Kramer, Kouff u. dergl., auch für den Winter
von Vorteil. Arnold Korff ist nicht der flache Plau¬
derer, nicht der vulgäre Bonvivant und Lebemann, er
ist bei aller Leichtigkeit und Saloppheit der Denker und
Gestalter, dessen überlegene Sicherheit im Scherz wie
im Düstern dem Zuhörer die Rolle auch vom Stand¬
punkt des Gefühls und des Verständnisses förmlich
aufzwingt, vollendete künstlerische Charakteristik, hin¬
reißend auch in seinem Schmarz, in der Tragik am
Schlusse des Stückes. In letzterem Punkte versagte die
sonst durch ihre Zeichnungsgabe so treffliche Helene
Stiastny=Boruttau; die Schtheit des Schmerzes
zu malen, vermochte sie nicht. Ida May gab die
Erna; hier genügt nicht Liebreig und schauspielerisches
Können, Erna muß von Temperament, eruptivem
Feuer sprühen, um ihre Handlungsweise verständlich
zu machen; sie muß der Gegenpol zu Genias Passivität
sein — im großen und ganzen wpar auch sie sehr brav.
Eduard Gebhardt bemühte sich um den Dr. Mauer,
wohl die am schwächsten geratene der vier Hauptfiguren
Leopold Gabel fesch und wurm als Otto, Hans
Fuchs von wahrhaft erheiternder Komik als Paul
Kreindl: Die beiden Mütter Frem Wahl, die typische,
nichtssagende Gesellschaftsmutter, und Frau Meinhold¬
Aigner, die trotz ihrer Mutterschaft und Mutterliebe
selbst schaffende und strebende Künstlerin, waren durch
Friederike Schwarz und Herina Rucker tadellos
wiedergegeben. Noch mehr ges diese sind alle anderen
nur Beiwerk: Herr v. Aigner (Q#wald Duffek), das
Ehepaar Natter (Leurdd Esundt und Toni Hor¬
witz), S#xe Bener), das Ehepaar Rhon
(Sttzen Martin und Mary Drill — letztere statt
der auf dem Zettel angekündigten unendlich besseren
Frieda Börken), der Hotelportker (Karl Kaxner) usw.
Das Haus war glänzend besucht und befleißigte sich
sonderbarer Weise eines ziemlichen Verständnisses für
das innerliche Geschehen und den nicht lärmenden,
Reichenberner Zeitung
„ „
Stadttheater.
„Das weite Land“. Eine Tragikomödie in
ügen von Artur Schnitzler.
Denn schon T M Auszuge seinen
Freund Hofreiter nicht ganz mit Unrecht fragt:
„Tu hast mich doch nicht etwa bergebeten, um mir
deine Philosophie vorzutragen?“ uns hat der
Tichter diesmal sicherlich ins Theater gebeten,
um uns darin etwas vorzupkklosophieren über das
nie zu erschöpfende weite Land der Seele, über
Liebe und Liebelei, Ehe und Freundschaft, Treue
und Untreue. Der weiche wienerische Zug seines
Wesens, den Schnitzler manchmal fast ganz über¬
wunden zu haben schien, hier ist er wieder da und
füllt das ganze Stück, dessen Ort und Zeit und
Personen: Baden, Gegenwart und die junge und
ältere Lebewelt der Großstadt, mit scharfen
Strichen gezeichnet lebendig vor uns stehen. Echte
Menschen sind es, die fest in ihrem Leben stecken,
die aus ihrer Art nicht herauskönnen, einer Art,
die man kennt, wenn man sie auch nicht anerkennt,
und die doch ihr Lebensrecht hat wie alles, was
lebendig ist, die kämpft und leidet, wie alles, was
menschlich ist — die Charakteristik dieser Personen
ist so scharf angelegt und ihre Empfindungen
vrallen so unmittelbar aufeinander, daß ein
Schein von echter tragischer Glut darauffällt. Das
mit Motiven übersättigte Stück, das im Grunde
mehr ein Geschehenlassen als eine Tat ist, enthält
zwar manche Länge; aber der Dialog, bei dem
als Unterton das Schicksal so vieler Menschen
immer leise mitzittert und sicherlich in manchem
von uns noch lange nachsummen wird, ist so klug
beherrscht, daß man sie nicht merkt —
fast in
Scherz und Tanz, unter Musik und Spiel, schwebt
bei dieser künstlerisch beseelten Wirklichkeitsschil¬
derung das tragische Schicksal dieser Leute an uns
vorbei und gibt uns an einem Abende mehr zu
denken und zu danekn, als eine Woche von
Theaterabenden, über deren Dürftigkeit und
Schwäche jahraus, jahrein hier so oft Klage ge¬
führt wurde.
Was alles in dieses Stück hineingelegt ist.
fühlen wir, wenn es gehoben wird durch eine so
gute Vorstellung, wie wir sie diesmal unter der
bewährten Leitung des Herrn Brandt erlebten
sunter Mitwirkung einer Kraft, wie Herr Korff
eine ist. Wohl jeder fühlte, daß eine starke eine
znbezwingbare Macht in den Worten dieses
Mannes liegt, daß er mit scheinbar äußerster
Kunstlosigkeit und dabei doch wie ein scharfer
Beobachter, nichts Kleinstes aus dem Blicke
zlassend. im leichten wienerischen Dialekt uns vom
ersten Wort an fesselt, anzieht, beunruhigt, auf¬
fregt, mit atemloser Spannung erfüllt und er¬
schüttert. — Der Rollen gibt es viele in dem
Stücke; fast alle waren so besetzt, daß sie ein
Eigenlob verdienten. Wenn ich trotzdem nur Frl.
Voruttau=Stastny (Genka) erwähne, so
jgeschieht es, weil sie, als Trägerin der nächstwich¬
nigen Rolle, bei aller Einfachheit des Spiels —
leine sparsamere Mimik hätte nicht geschadet — am¬
meisten Hervorlohung verdient.
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