II, Theaterstücke 24, Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten, Seite 718

W
24 basLand
box 29/5
Dr. Max Goldschmidt
Büro für Zeitungsausschnitte
Teleion: Norden 3051
BERLIN N 4
Husschnitt aus:
Berliner Morgenpost
2 Dez 1924

Neueröffnung des
Lessing=Themers.
Schnitzlers Schauspiel „Das weite Land“.
Das Lessing=Theater, einst geheiligt durch
Otto Brahms bedeutende Wirksamkeit, dann
zehn Jahre lang weitergeführt durch den Ge¬
schmack und das Geschick Barnowskys, der heute
in Berlin spazieren geht, schließlich der Revue
ausgeliefect, ist jetzt von der Direktion Rotter
übernommen worden. Das ist auch nur ein
Zwischenspiel; denn übers Jahr wird hier, als
Pächter der neuen Besitzer, Herr Hellmer aus
Frankfurt einziehen.
Man begann mit Schnitzlers Schauspiel
„Das weite Land“, das einst, vor dreizehn
Jahren, an eben dieser Stelle zuerst erschien,
und das die Rotter=Bühnen schon längst wieder
aufgenommen hatten. Also eigentlich keine neue
Aufführung; man hat sich nicht besonders ange¬
strengt. Durch einen Punkt aber, und das gab
dem Abend den Stempel, wurde die Verbindung
mit jener Premiere von 1911 hergestellt: wie
damals, spielt auch heute Irene Triesch die
Frauenrolle, um die das Stück kreist, die Gattin
des Wiener Fabrikanten, Weltgenießers und
Frauenverführers Friedrich Hofreiter. Sie i
seitdem nicht jünger geworden, und es fehlt ihr
anfänglich ein Etwas an Wahrscheinlichkeit für
Frau Genia, die Vernachlässigte, die aus der
Vornehmheit ihres Wesens nicht den Weg ge¬
funden hat, dem ewig untreuen Gemahl Gleiches
mit Gleichem zu vergelten, und die, als sie sich
schließlich doch einem lieben Jungen hingibt, es
im Grunde eigentlich nur tut, um mit letztem
kühnem Versuch den Gatten zurückzugewinnen.
Denn Friedrich Hofreiters verwickelte Seelen¬
maschinerie — diese Männer=Unberechenbarkeit
ist das, was an einer Stelle, nicht ohne Banali¬
tät, das „weite Land“ genannt wird — brachte
es zuwege, daß eben Genias stolze Tugend ihn
abstieß. Nun freilich, da sie Stolz und Tugend
einmal aufgegeben, paßt es dem komplizierten
Herrn wieder nicht, und im Duell knallt er den
sympathischen Fähnrich nieder, mit dem Genia
ihn hinterging.
Aus Spiel und Tändelei ist Ernst geworden.
Eine verfaulte Gesellschaft, die nur an der
Oberfläche hinhüpft, von der erotischen Sensa¬
tion lebt in tadellosen Formen heuchelt und
lügt und betrügt, bricht zusammen. Auch das
durch eine Laune, durch ein leichtfertiges Han¬
tieren mit gesellschaftlichen Konventionen. Nicht

Eifersucht treibt Hofreiter zum Duell, nicht ein¬
mal verletzte Eitelkeit, sondern er schießt, weil es
halt so Sitte ist. Wie Irene Triesch durch diese
Handlung schreitet oder gleitet, ist freilich heute
wie ehedem ein Dokument höchster schauspieleri¬
scher Kunst. Man vergißt nach wenigen Augen¬
blicken den Widerspruch der Erscheinung, denn
man
im Tiefsten ergriffen durch diese
wundervolle Beseelung der Gestalt, durch diese
Meisterschaft verhaltener Empfindung, durch die
stumme Sprache dieser großen dunklen Augen,
durch den Strom der Wärme, der zu uns her¬
überflutet.
Gewiß, wir spüren den Gegensatz zwischen
der weichen, müden, überkultivierten Wiener
Welt aus den Jahren vor dem Kriege, die
Schnitzler spiegelt, und unserer härteren Zeit.
Aber wir sind doch bezaubert von der feinfühli¬
gen Menschenkenntnis, die sich hier offenbart,
von dieser zarten Kunst weltmännisch=weiser
Plauderei. Arnold Korff verschiebt freilich
den Hofreiter gar zu sehr. Aus dem skrupel¬
losen Egoisten, der aber doch ein Charmeur, ein
liebenswürdiger, die Menschen beherrschender
Zeitgenosse ist, wird eine recht unsympathische
Bekanntschaft, ein gleichgültiger und frostiger
Herr, der noch dazu gelegentlich in ein über¬
raschendes Pathos verfällt. Neben der innigen
Gefühlswärme der Triesch wirkt diese Routine
doppelt kalt. Was nebenher geht, ist meist un¬
zulänglich. Am fühlbarsten wird das bei der
Darstellerin des jungen Mädels, die, willig ver¬
führt, dem Herrenmenschen aus dem Wiener
Villenvorort ins Garn geht. Man denkt an die
frische, trotzig begehrende, unverdorbene Sinn¬
lichkeit, mit der einst Hilde Herterich dieser
Figur Leben gab, und ermißt den Abstand. Der
alte Ferdinand Bonn und die alte Adele
Sandrock beschämen in Nebenrollen den Nach¬
wuchs. Auch Heinrich Schroth, der den
Zyniker des Stückes spielt, sticht noch hervor.
Ich meine, er könnte einmal den Hofreiter geben.
Die Regie bringt nicht viel Bewegung von
innen her. Warum hat man übrigens die
hübsche Szenerie des Aktes im Gebirgshotel —
der Semmering gab dabei das Modell ab — so
nüchtern verändert? Bei Brahm baute der
Spielleiter Lessing hier eine muntere und lustige
Hoteldiele auf, mit Portierloge links und Fahr¬
stuhl rechts; Brahm seufzte damals über die
Dekorationskosten, mit denen er gern sparte.
Das ergab einen frischen Luftzug in der lauen
und schwülen Atmsphäre des erotischen Ge¬
plauschs in den übrigen Akten. Jetzt wird
daraus ein Konversationszimmer, wo es wieder
ebenso zugeht wie in Hofreiters Villa. Dafür
genießt man glühende Dolomiten bei Sonnen¬
untergang..
Max Osborr