II, Theaterstücke 24, Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten, Seite 774

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gehalten, so erreichen sie auch rascher ihr Ziel, so lebt ihr Drang,
zu strömen und sich zu ergießen, sich nur noch stärker und lust¬
voller aus als vorher. Der Zwang wird zur Freiheit. Die Wildnis“
aber, die beseitigt werden mußte, um diese geordnete Freiheit für
den Menschen und die Natur zu gewinnen, war kein Chaos; sie
war, wie jeder Maler und Künstler weiß, ein entzückendes Bild
von wundersamer Gestaltung, das nur ganz bestimmten Zwecken,
die der Mensch in der Natur verfolgt, zum Opfer gebracht werden
durfte. Auch der Wechsel der Bilder vollzieht sich mit innerer Not¬
wendigkeit; der Übergang von einem zum andern hat immer sein
klares Gepräge. Wer einen Fluß vom Ursprung bis zur Mündung
begleitet, aus der finstern Bergschlucht in das freundliche Tal und
in die unermeßliche Ebene gelangt, von den einsamen Mühlen zu
den lebendigen Städten und bis zum stolzen Hafen vordringt, der
hat wahrhaftig ein weites Land durchschritten, aber auch ein
mächtiges Werden erlebt; der hat in dem Eilen und Wachsen des
Stromes die Folgerichtigkeit der Natur, in der Fülle menschlichen
Lebens, die da gleichsam dem Strome entwuchs, die Natürlichkeit
der Kultur gesehen und empfunden und hat mit ehrfürchtigem
Stannen die große Einheit erkannt, die das alles verbindet: in
einer und derselben Welle, wie sie unaufhaltsam dahinrauscht,
spiegeln sich die Mühlen und Fabriken, die Burgen und Schlösser,
die Kirchen und Paläste des weiten Landes, und ist die eine ver¬
rauscht, so kommt auch schon die zweite, und alle nehmen den
gleichen Weg, der zur Straße für die Menschen wird, die vom
Ursprung bis zur Mündung freundnachbarlichen Verkehr haben. Es
ist kein Zufall, daß das weite Land auch ein zusammengehöriges
Volk, einen gemeinsamen Staat umschließt. Wie sollte eine
chaotische Seele, von der niemand sich ein rundes Bild machen
kann, in der Heil und Unheil unversöhnlich nebeneinander hausen,
mit dem weiten Land verglichen werden können? und wie wäre
es erlaubt, das Streben nach Ordnung, die Bekämpfung des Chaos,
den Geist der Kultur, der nichts anderes als die sich selbst er¬
kennende Natur ist, als etwas Ohnmächtiges und Künstliches
zurückzuweisen?
Was uns Schnitzler in seinem Stücke zeigt, dafür gibt es
andere landschaftliche Gleichnisse. Diese Frau Genia Hofreiter,
die uns als die keusche und hoheitsvolle Gattin eines leichtfertigen
Mannes entgegentritt und dann plötzlich einen Liebhaber nimmt,
sei es, um sich zu rächen oder um — die Liebe des Gatten zu
erwerben, der für ihre Keuschheit kein Verständnis hat; und
dieser Herr Friedrich Hofreiter, dem seine Frau nur „fremder“
geworden ist, weil sie einen Entflammten nicht erhört und so in
den Tod getrieben hat, und der dann doch den Ehebruch der
Gekränkten und Verwirrten nicht ertragen kann und den Erhörten
töten muß, der aber außerdem die Braut seines besten Freundes
verführt und sie dann kaltherzig von sich stößt mit den Worten:
„Niemandem gehöre ich“, und der, wiewohl er jenseits von gut