II, Theaterstücke 24, Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten, Seite 804

Land
24. Das weite—
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Dr. Carl Furtmüller,
Künstlers abgesehen hat. Der andere Standpunkt ist der, dass der Psycho¬
analytiker icht dem Dichter, sondern den Gestalten der Dich¬
tung sein Augenmerk zuwendet, dass er ihre vom Dichter uns einzeln
vorgeführten Handlungen, Reden und Gedanken auf Grund seiner psycho¬
logischen Erkenntnisse zu einem einheitlichen Gesamtbilde zu vereinen
und auf ihre innersten Triebfedern zurückzuführen sucht. Als Methode
der Psychologie wird dieses Verfahren freilich von sehr beschränktem
Werte sein. Sind schon die Personen der Dichtung Phantasiegestalten,
s0 müssen Schlüsse, aus einer Analyse gezogen, die diese Phantasie¬
gebilde wie reale Personen behandelt, ein noch luftigeres Gebäude er¬
geben. Was dieses Verfahren leisten könnte, wäre nur, für auf anderein
Weg gewonnene Erkenntnisse ein allgemein zugängliches Anschauungs¬
und Erläuterungsmaterial zu liefern, Ihre volle Bedeutung aber kann
dliese Methode, glaube ich, nur dort bekommen, wo man nicht die Dichtung
in den Dienst der Psychoanalyse stellen will, sondern wo umgekehrt die
Psychoanalyse sich in den Dienst der Dichtung stellt. Mit ihrer Hilfe
wird man den Komplex von Einzelzügen, die der Dichter intuitiv als
zusanmnengehörig und gegenseitig bedingt gefühlt hat und die ihm in
ihrer Gesamtheit das Wesen einer Gestalt zu erschöpfen schienen, aus¬
einanderlegen, die einzelnen Züge auf ihre psychologische Tragweite prüfen
und dann die Einheit der Persönlichkeit, die der Dichter intuitiv vor
uns hingestellt hat, diskursiv nachzeichnen können. So kann psycho¬
analytische Durchleuchtung uns zu einem vertieften ästhetischen Verständ¬
nis des Kunstwerkes verhelfen. Auf zwei Einwände bin ich hier gefasst.
Der eine wäre der, dass hier das Verständnis des Kunstwerkes gewisser¬
massen als eine wissenschaftliche Aufgabe aufgefasst werde, statt als
eine Sache des gefühlsmässigen Mit- und Nacherlebens. Nichts liegt mir
ferner, als das Kunst-Erleben durch das Kunst-Verstehen ersetzen
zu wollen. Doch ist dieses ästhetische Erleben an intellektuelle Voraus¬
setzungen geknüpft, und das Ziel jeder fruchtbaren Literaturbetrachtung
und Literaturkritik ist es, diese intellektuellen Voraussetzungen zu schaffen
oder zu verbessern.
Der zweite Einwurf, den ich erwarte, ist: Ich sähe im Dichter vor
allem den Psychologen und unterläge da einer unkünstlerischen,
intellektualistischen Zeitströmung. Dem hätte ich entgegenzuhalten, dass
für die hier vorgeschlagene Literaturbetrachtung der Künstler wohl gerade
um so interessanter sein wird, je weniger er Psychologe sein will. Der
Dichter, der, bevor er ans Werk ging, die Lehrbücher der Psychologie
und Psychiatrie zu Rate gezogen hat, wird dem Psychologen nicht viel
zu bringen haben. Am meisten Staunen und Bewunderung werden wir
bei denen empfinden, die naiv und doch tief gesehen haben. Und bei
dem bewusst psychologischen Dichter wird unser Interesse gerade dort
erwachen, wo sein Werk ihn über sein Wissen hinausführt.
Dass ich hier zwei Gesichtspunkte der psvchologischen Literatur¬
betrachtung logisch scharf geschieden habe, soll natürlich nicht sagen,
dass sie auch praktisch voneinander völlig getrennt werden können oder
sollen. Im Gegenteil, wer in einer von beiden Betrachtungsweisen wird
wirklich in die Tiefe gehen wollen, wird sich der andern als Hilfe be¬
dienen müssen.