II, Theaterstücke 24, Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten, Seite 847

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Sollte es Ihnen noch nicht aufgefallen sein, was für komplizierte Subjekte
wir Menschen im Grunde sind? So vieles hat zugleich Raum in uns! —
Liebe und Trug... Treue und Treulosigkeit ... Anbetung für die eine und
Verlangen nach einer andern oder nach mehreren. Wir versuchen wohl
Ordnung in uns zu schaffen, so gut es geht, aber diese Ordnung ist doch
nur etwas Künstliches Das Natürliche — ist das Chaos. Ja, mein guter
Hofreiter, die Seele ist ein weites Land, wie ein Dichter es einmal aus¬
drückte Es kann übrigens auch ein Hoteldirektor gewesen sein.“
Irgend jemand hat Schnitzler einmal einen schwermütigen Liebes¬
grübler genannt; vielleicht war das ein Hoteldirektor; es kann übrigens auch
ein Kritiker gewesen sein, der leider kein Hotel besitzt.
Nun sollte man eigentlich annehmen, ein unter gereiften Menschen in
verschiedenen Lebensstellungen spielendes Drama müßte noch von manch
anderem handeln, als bloß von den eigenartigen Erscheinungen und sonder¬
baren Uberraschungen, die auf dem allerdings ausgedehnten Gebiete des
Seelenlebens, das sich als das erotische bezeichnen läßt, zutage treten. Die
Gesellschaft wird doch von anderen und von mehr Dingen bewegt, als von
der Liebe, die sich als Augenblicksleidenschaft äußert, von Eifersucht ohne
Liebe, von resignierter Zärtlichkeit, von wohlwollender Erkenntnis des Wertes
und der Rechte eines Menschen ohne wirklichm Respekt für diese Rechte
und ohne Rücksicht oder Schonung für den andern. Bei Schnitzler aber ist
das nicht so. Wenn das Erotische in diesem weiten Sinne genommen wird,
ist sein Drama ausschließlich erotisch.
Die Menschen, die in dieser Welt Schnitzlers vorkommen, wo die Ge¬
schlechter so stark und fast ausschließlich von einander erfüllt sind, sind
interessant und neu. Die Seelenelemente mischen sich anders bei ihnen, als
man es sonst zu sehen gewohnt ist.
Die männliche Hauptperson ist ungewöhnlich ausgestattet mit Verstand,
Energie, Eroberungslust und Genußsucht, nicht gefühllos, nicht unritterlich,
doch mit einer Besitzereitelkeit im innersten Innern, die ihn roh und bös
und desperat zu machen vermag. Seine Frau, Genia, die am liebevollsten
und meisterlichsten ausgeführte Frauengestalt des Dramas, ist, ohne gerade
genial zu sein, so echt und fein, so zurückhaltend und warm, daß sie als
das wirkt, was man ein höheres Wesen zu nennen pflegt. Sie hat sich
längst von ihrem Manne zurückgezogen, er hat ihr theoretisch alle Freiheit
eingeräumt und er bedrängt sie auch keineswegs mit Erotik, indessen treibt
ihn seine trockene Selbstsucht doch dann und wann bei auffälligen Vor¬
Kommnissen dazu, sie einem Kreuzverhör zu unterziehen und sie zu be¬
lauern, so daß er schließlich mit häßlicher Barberei im Duell den jungen
Mann niederschießt, bei dem sie für einen kurzen Augenblick Trost gesucht
hat. Am Schlusse des Stücks enthüllt sich hier in ihm ein Wesen, das er
kaum in sich ahnte, härter, wilder, brutaler, infamer.
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