II, Theaterstücke 24, Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten, Seite 848

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Diese Gestalt: ein Charmeur, der, von seiner Frau unbefriedigt, dennoch
Respekt vor ihr bewahrt hat, ist in der Person des Dr. v. Aigner variiert.
Auch um ihn scharen sich die Frauen wie Vögel um ein Leuchtturmfeuer.
Auch er ist trotz seines Leichtsinns im Innersten schwermütig; aber er ist
weit beherrschter.
Seine geschiedene Frau hat die stille, überlegene Würde des Wesens,
die bei älteren, ausgezeichneten Schauspielerinnen nicht selten ist.
Die Nebenfiguren haben mit wenigen gleichgültigen Ausnahmen jede
ihre lehrreiche Eigentümlichkeit: ein Bankier, dessen Geriebenheit, glattes
Wesen und tückische Hinterlist mit wenigen Strichen gegeben sind; ein
Dichter, dessen Plattheit und Selbstgefälligkeit eine Quelle des Genusses für
den Zuschauer wird; ein Tourist, dessen Sucht sich zu beklagen und dessen
Versuch, durch Aufgeblasenheit zu imponieren, von feinster Lächerlichkeit ist.
Und schließlich der einzige ungebrochene, ganze Mensch dieser Galerie,
das junge, lebensdurstige Mädchen Erna, das mutig, entschlossen, frei, alles
auf eine Karte setzt und — in dieser Welt von Individuen, die das eine
wollen und das andere tun, heute dies und morgen jenes wollen — mit
Notwendigkeit ihr Spiel verlieren muß.
Nicht weniger als zwanzig Menschen (und darüber) kommen in dem
Stücke vor; doch sammeln und gruppieren sie sich leicht. Die ungezwungene
Bewegung der Diktion, das Leben und die Natürlichkeit des Dialogs, auch
wenn er einigermaßen zu denken gibt, sind große Vorzüge. Der Dichter
steht nicht mit einem Zeigestab neben der Handlung; so klar alles ist,
herrscht doch keine übertriebene Deutlichkeit. Man hat hier nicht selten
Anlaß, sich zu fragen: weshalb sagt er denn das? Meint er das oder will er
nur den andern sicher machen? Doch alles klärt sich dem aufmerksamen
Leser oder Zuschauer ohne die Anstrengung auf, die Ibsen zuweilen er¬
fordert, und die Handlung ist mit überlegener technischer Bravour, trotz der
Ruhepausen der humoristischen Szenen, in ununterbrochener Steigerung der
Spannung geschürzt.
In einer der früheren Komödien Schnitzlers: „Das Zwischen¬
spiel“ (aus dem Jahr 1oo6) ist verschiedenes, das sich wie eine Vorarbeit
zu „Das weite Land“ ausnimmt. Auch dort sind die Hauptpersonen
zwei hervorragende Menschen, die sich im Grunde lieben, doch zwischen die
sich eine Entfremdung eingeschlichen hat, so daß jedes von ihnen sich eine
Zeit lang zu einem (oder einer) anderen hingezogen fühlte. Nur, daß der
über Dutzende von Seiten sich erstreckende Dialog zwischen ihnen lebhaft
an die subtile Erörterung der Geheimnisse des Herzens, die Liebeskasuistik
erinnert, die Marivaux' Komödien erfüllt. In diesem Stücke kommt auch
zum erstenmal ein Menschenpaar vor, das sich in dem Schauspiele „Das
weite Land“ wiederfindet, der Dichter Albertus Rhon und seine kleine,
bewunderte, etwas enbedeutende Frau. Doch während Rhon in dem älteren
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