24. Das veite Land
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ob ein Bergführer, der -Sell wohle zu sagen hat, von einem
Dialektschauspieler gegeben wird. Und wenn die Provinzbühne
dritten Ranges, die heute das Burgtheater ist, sich erdreistet, an
einer Tradition zu kleben, von der heute wirklich nur der
Gefrornesmann auf der Galerie und vielleicht noch ein alter
Logenschließer, auch dieser schon geborsten, zeugen können,
so muß doch wohl einmal gesagt werden, daß es auch
eine Schmutzkonkurrenz mit der Vergangenheit gibt und daß es
unerträglich ist, wenn ein Ausverkauf von Galanteriewaren, der in
einer geräumten Kunsthandlung provisorisch untergebracht ist,
sich auf den guten Ruf des Geschäftes beruft. Ich werde
wirklich noch grob werden, wenn ich den Herrn von Berger, der
doch über alles sprechen könnte und nicht gerade auf die
Tradition des Burgthcaters angewiesen ist, noch einmal diese
anrufen höre! Daß sich ein Burgtheaterdirektor, der -Die Liebe höret
nimmer aufe gespielt hat, in Gesellschaft zu gehen traut, zeugt von
einem starken Unbewußtsein, und man versteht es, seitdem man er¬
fahren hat, daß der Freiherr v. Berger nicht nur Alfred, sondern auch
Maria heißt. Aber wenn schon nicht die Liebe zu Herrn Otto Ernst,
dem Schöpfer des -feuchtfröhlichen Bruno-, so hat die Tradition
des Burgtheaters endlich einmal aufzuhören! Doch das sind
peinliche Sorgen des Alltags und es ist immer lohnend, von ihnen
in die freien Berge zurückzukehren und zu Herrn Minor, der
schon seine Pfeife stopft und wartet. Wir wollen aufbrechen, aber
da fehlt uns eines: Wie stehts denn mit der Wäsch'? Minor hat
uns gewarnt. Auch er kann aus seiner Erfahrung bestätigen,
auch er beklagt sich über das lange Ausbleiben seiner
Wäsche, und der Tourist spürt es, wenn beim Bergführer die
Wäsche lange ausbleibt. Oben, auf der Hofbrandhütte, wo einem
der Schwitz sakrisch herunterrinnt, wird die Situation unhaltbar,
und man beschließt, sich zu beschweren. Der Dichter, der
mit von der Partie ist, schreibt ein Stück, in dem es vorkommen
wird, und der Referent wird es in die Osterreichische Rund¬
schau geben. Vorläufig ist es am besten, es dem Portier des
Semmeringhotels zu sagen. Da erkennt aber der Dichter,
daß es gut sei, auch den Portier in das Stück hineinzunehmen,
und der Literarhistoriker findet, daß der Portier „wie es heißt,
getreu nach dem Original gezeichnet sei. Dann kommen die
Kollegen von der Tagespresse, denen auch die Wäsche zu lange
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ausbleibt, bestätigen, daß das weite Land- die Seele sei, die ein weites
Land ist, wie ein Hoteldirektor gesagt hat, daß der Portier täuschend
getroffen sei und das Stück ein Hotelschlüsselstück. „Schnitzler
getraute sich nicht recht eine lebende Person auf das Theater zu
stellen. Erst nach längeren Beratungen mit guten Freunden- ent¬
schloß er sich. Dann kommen die Kulissenplauderer und verraten,
daß der Schauspieler mit dem Dichter auf den Semmering gefahren
sei, rum an Ort und Stelle Studien zu machen-. Und was sonst
noch für köstliche Geheimnisse sind, die das gelobte weite Land
eröffnet. Doch ist es notwendig zu Minor zurückzukehren,
der wieder zum Aufbruch mahnt und ungeduldig fragt, ob er denn
ein Bergführer oder ein Hopf sei. Nachdem wir ihn beruhigt
und ihm versichert haben, daß er beides sei und außerdem ein
Literarhistoriker, gibt er uns schmunzelnd und indem er -Sell
wohlt sagt, die neueste Nummer der Österreichischen Rundschau zu
lesen, von der wir bisher geglaubt haben, daß sie: nur auf
Lloyddampfern zur Herbeiführung der Folgen der Seekrankheit
gehalten wird, aber zu unserem Erstaunen nünmehr ersehen, daß
sie auch auf den hoken Bergen aufliegt. Als Kenner gefährlicher
Touren versichert uns Herr Minor darin, daß Schnitzler, der
auf dem Umweg über die Novelle und den Dialog zum Drama
gekommen ist, heute allein noch auf der Bühne lebendige sei.
Alle andern sind Opfer der Berge. -lbsen ist nicht, wie man
erwarten und wünschen konnte, zum Eckstein des deutschen
Theaters geworden-. Doch damit sind wir plötzlich wieder in
jene Ebene des Lebens gelangt, wo die Köter der Literatur
den Ecksteinen ihre Mißachtung ausdrücken. Im Fußumdrehn
sind wir aber wieder oben. Denn: -Hauptmann hat seit längerer
Zeit versagte. Er hat sich an Minor nicht angeseilt. Er hat
nicht die genagelten Stiefel des Herrn Schönherr angehabt. Er
hat, was er schreibt, sich selbst zuzuschreiben. Er ist matsch. Und
dennoch glaube ich, daß nach fünfzig Jahren, wenn Glaube und
Heimat und Nobelpreis und weites Land und alle dii minores
vergessen sein werden, man an dem abgestürzten Hauptmann
Wiederbelebungsversuche machen wird und daß der Dichter der
Pippa die Augen öffnen und sagen wird: er habe sich nur tot
gestellt, um dem lästigen Bergführer zu entkommen, und er habe
die Zeit verschlafen wollen, ineder Herr Paul Goldmann lebte und
die schwitzenden Geister, denen die Wäsche lange ausblieb;
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ob ein Bergführer, der -Sell wohle zu sagen hat, von einem
Dialektschauspieler gegeben wird. Und wenn die Provinzbühne
dritten Ranges, die heute das Burgtheater ist, sich erdreistet, an
einer Tradition zu kleben, von der heute wirklich nur der
Gefrornesmann auf der Galerie und vielleicht noch ein alter
Logenschließer, auch dieser schon geborsten, zeugen können,
so muß doch wohl einmal gesagt werden, daß es auch
eine Schmutzkonkurrenz mit der Vergangenheit gibt und daß es
unerträglich ist, wenn ein Ausverkauf von Galanteriewaren, der in
einer geräumten Kunsthandlung provisorisch untergebracht ist,
sich auf den guten Ruf des Geschäftes beruft. Ich werde
wirklich noch grob werden, wenn ich den Herrn von Berger, der
doch über alles sprechen könnte und nicht gerade auf die
Tradition des Burgthcaters angewiesen ist, noch einmal diese
anrufen höre! Daß sich ein Burgtheaterdirektor, der -Die Liebe höret
nimmer aufe gespielt hat, in Gesellschaft zu gehen traut, zeugt von
einem starken Unbewußtsein, und man versteht es, seitdem man er¬
fahren hat, daß der Freiherr v. Berger nicht nur Alfred, sondern auch
Maria heißt. Aber wenn schon nicht die Liebe zu Herrn Otto Ernst,
dem Schöpfer des -feuchtfröhlichen Bruno-, so hat die Tradition
des Burgtheaters endlich einmal aufzuhören! Doch das sind
peinliche Sorgen des Alltags und es ist immer lohnend, von ihnen
in die freien Berge zurückzukehren und zu Herrn Minor, der
schon seine Pfeife stopft und wartet. Wir wollen aufbrechen, aber
da fehlt uns eines: Wie stehts denn mit der Wäsch'? Minor hat
uns gewarnt. Auch er kann aus seiner Erfahrung bestätigen,
auch er beklagt sich über das lange Ausbleiben seiner
Wäsche, und der Tourist spürt es, wenn beim Bergführer die
Wäsche lange ausbleibt. Oben, auf der Hofbrandhütte, wo einem
der Schwitz sakrisch herunterrinnt, wird die Situation unhaltbar,
und man beschließt, sich zu beschweren. Der Dichter, der
mit von der Partie ist, schreibt ein Stück, in dem es vorkommen
wird, und der Referent wird es in die Osterreichische Rund¬
schau geben. Vorläufig ist es am besten, es dem Portier des
Semmeringhotels zu sagen. Da erkennt aber der Dichter,
daß es gut sei, auch den Portier in das Stück hineinzunehmen,
und der Literarhistoriker findet, daß der Portier „wie es heißt,
getreu nach dem Original gezeichnet sei. Dann kommen die
Kollegen von der Tagespresse, denen auch die Wäsche zu lange
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ausbleibt, bestätigen, daß das weite Land- die Seele sei, die ein weites
Land ist, wie ein Hoteldirektor gesagt hat, daß der Portier täuschend
getroffen sei und das Stück ein Hotelschlüsselstück. „Schnitzler
getraute sich nicht recht eine lebende Person auf das Theater zu
stellen. Erst nach längeren Beratungen mit guten Freunden- ent¬
schloß er sich. Dann kommen die Kulissenplauderer und verraten,
daß der Schauspieler mit dem Dichter auf den Semmering gefahren
sei, rum an Ort und Stelle Studien zu machen-. Und was sonst
noch für köstliche Geheimnisse sind, die das gelobte weite Land
eröffnet. Doch ist es notwendig zu Minor zurückzukehren,
der wieder zum Aufbruch mahnt und ungeduldig fragt, ob er denn
ein Bergführer oder ein Hopf sei. Nachdem wir ihn beruhigt
und ihm versichert haben, daß er beides sei und außerdem ein
Literarhistoriker, gibt er uns schmunzelnd und indem er -Sell
wohlt sagt, die neueste Nummer der Österreichischen Rundschau zu
lesen, von der wir bisher geglaubt haben, daß sie: nur auf
Lloyddampfern zur Herbeiführung der Folgen der Seekrankheit
gehalten wird, aber zu unserem Erstaunen nünmehr ersehen, daß
sie auch auf den hoken Bergen aufliegt. Als Kenner gefährlicher
Touren versichert uns Herr Minor darin, daß Schnitzler, der
auf dem Umweg über die Novelle und den Dialog zum Drama
gekommen ist, heute allein noch auf der Bühne lebendige sei.
Alle andern sind Opfer der Berge. -lbsen ist nicht, wie man
erwarten und wünschen konnte, zum Eckstein des deutschen
Theaters geworden-. Doch damit sind wir plötzlich wieder in
jene Ebene des Lebens gelangt, wo die Köter der Literatur
den Ecksteinen ihre Mißachtung ausdrücken. Im Fußumdrehn
sind wir aber wieder oben. Denn: -Hauptmann hat seit längerer
Zeit versagte. Er hat sich an Minor nicht angeseilt. Er hat
nicht die genagelten Stiefel des Herrn Schönherr angehabt. Er
hat, was er schreibt, sich selbst zuzuschreiben. Er ist matsch. Und
dennoch glaube ich, daß nach fünfzig Jahren, wenn Glaube und
Heimat und Nobelpreis und weites Land und alle dii minores
vergessen sein werden, man an dem abgestürzten Hauptmann
Wiederbelebungsversuche machen wird und daß der Dichter der
Pippa die Augen öffnen und sagen wird: er habe sich nur tot
gestellt, um dem lästigen Bergführer zu entkommen, und er habe
die Zeit verschlafen wollen, ineder Herr Paul Goldmann lebte und
die schwitzenden Geister, denen die Wäsche lange ausblieb;