23. Der Schlefer der Pierrette
ADOLF SCHUSTERMANN
ZEITUNGSNACHRICHTEN-BUREAG
BERLIN SC. 16, RUNGE-STRASSE 23/27.
Zetung: Hamburger Nachrieffen
7 k.-
Aaresse: Hamburg
Datum:
E.AIG. [„„Der Schleier der Pierrette“.] Aus Dresden wird
uns geschrieben: Am Sonnabend fand die Uraufführung der Pänto¬
mime „Der Schleierder Pierrette“ von Schnitzler und
Dohnanyi im hiesigen Kgl. Opernhause statt. Sie ergab einen
sehr beträchtlichen Erfolg. Wenn der Beifall nur von einem Teile
des Publikums ausging, während der andere Teil Zurückhaltung be¬
wahrte, so liegt dies wohl an dem grausigen Stoffe, der an nerven¬
peitschender Gruseligkeit selbst „Salome“ überbietet. Arthur
Schnitzler, der sonst so feinsinnige Wiener Poet, hat offenbar.
die Absicht gehabt, durch diese Pantomime sich den Modekomponisten
als Textverfasser sensationell=perverser Opern zu empfehlen und
mutet demgemäß den Zuschauern allzuviel zu. Die Handlung ist¬
etwa folgende: Pierrette ist dem jungen Pierrot untreu geworden
und hat sich mit Arlekino verheiratet. Pierrot erduldet, vor dem
Bilde seiner Angebeteten sitzend, alle Qualen verschmähter Liebe,
da kommt Pierrette im vollen Hochzeitsstaat, mit Brautkranz und
Schleier zu ihm. Es entspinnt sich eine heiße Liebesszene, die in
ein kleines Mahl zu Zweien übergeht. Da macht der verzweifelte
Pierrot der Geliebten den Vorschlag, mit ihm vereint in den Tod
zu gehen. Er schenkt zwei Gläser voll Gifttrank, doch sie weigert sich;
endlich scheint sie nach langem Zureden einzuwilligen. Pierrot leert
den Becher und sinkt bald tot zu Boden, nachdem er noch mit brechen¬
dem Auge hat sehen müssen, daß Pierrette das Glas mit dem Gift¬
trank von sich geworfen hat. Entsetzt flieht sie aus dem Gemach des
Toten und eilt wieder in ihr elterliches Haus, wo der Hochzeitstanz
im vollen Zuge ist. Die dringenden Fragen des eifersüchtigen
Gatten nach ihrem Verbleiben beantwortet sie zunächst mit Aus¬
flüchten, auf einmal erblickt sie den toten Pierrot, der ihr gespenstisch!
entgegentritt mit dem Schleier in der Hand, den Pierrette im Zim,
mer des Toten bei ihrer wilden Flucht zurückließ. Arlekino, der das
Fehlen des Schleiers bemerkt, entreißt der Gepeinigten schließlich.
das Geständnis, wo sie ihn hat liegen lassen. Arlekino begleitet
Pierrette in das Zimmer, in dem der arme Pierrot tot und starr
am Boden liegt. Arlekino sieht das Bild Pierrettens, den Leichnam
und die Reste des Mahles und begreift, was vorgefallen. Seine
Rache ist grausig. Er schleppt den Toten zum Sofa und setzt ihn
dort halb aufrecht an den Platz, den er einst beim Tete=a=tete mit
Pierrette eingenommen hat. Dann trinkt er dem Leichnam höhnisch
zu und zwingt Pierrette ein Gleiches zu tun. Nach diesem Gelage
mit dem Toten verläßt Arlekino seine ungetreue Braut, die sich nun
mit der Leiche eingeschlossen sieht. Das Grausen raubt ihr den
Verstand und im Wahnsinne kokettiert sie mit dem toten Liebhaber
und tanzt vor ihm einen verlockend wilden Tanz, um endlich tot
neben Pierrot zusammenzubrechen. Daß die Musik, die Ernst
von Dohnanyi zu dieser Handlung geschrieben hat, für den
entsetzlichen dritten Akt nicht ausreicht, halte ich für einen erfreu¬
lichen Beweis dafür, daß sein Talent noch nicht überreizt ist. Hier
ruft man ordentlich nach Richard Strauß, der vielleicht einzig dieser
grimmigen Verhöhnung der Majestat des Todes hätte musikalisch bei¬
kommen können. Im übrigen aber offenbart die Musik des noch
jungen Komponisten nicht nur frische Melodik und aparte Rhythmik,
sondern auch dramatischen Schwung und klangliches Ausdrucksver¬
mögen. Die Instrumentation ist außerordentlich klug berechnet und
zahlreiche eigenartige Klangeffekte entsprechen den Höhepunkten der
Handlung. Die Aufführung war vom Hofballettmeister Berger
mit großer Sorgfalt vorbereitet. Die Hauptpartien waren mit
Opernkräften besetzt. Eine glänzende Kostümierung im Altwiener
Schnitt sorgte für farbenschöne Bilder. Am Dirigentenpulte saß
Ernst v. Schuch, der den musikalischen Teil des Werkes vorzüglich
herausarbeitete und deshalb stürmischer gefeiert wurde als der
Komponist, der mit den Hauptdarstellern zahlreichen Hervorrufen
Folge leisten durfte.
box 27/5
Telsphos 12.891.
„UDOERTER
öeterr. bebördl. konz. Unternehmen für Zeitungs-Ausschaltte
Wien, I., Concordiaplatz 4.
Vertretungen
s Berlin, Basel, Budapest, Chicago, Cleveland, Christiania,
Oeni, Kopenhagen, London, Madrid, Mailand, Minneapolis.
New-Vork, Paris, Rom, San Francisco, Stockholm, St. Peters¬
burg, Toronto.
(Geelienengabe ohne Gewähr.
Ausschnitt augresdner Generaisäneeiger
24.00l 1910
Dresden
vom:
Ranst und Wissenschaft.
)( Der Schleier der Pierrette. Im Königlichen, Opern¬
hause erlebte am Sonnabend Artur Schnitzlers Pansamime
„Der Schleier der Pierrette“ seine Urk Der Dichter
entlehnte den düsteren Stoff des Werkes seinem bereits literarisch
bekannten Drama „Der Schleier der Beatrice". Er behandelt
in der Hauptsache das Liebesdrama einer Pierrette, dessen tra¬
gischer Abschluß allerdings mehr für starknervige Personen be¬
stimmt ist. Die Musik hat Professor Erntt von Dohnanyi
geschrieben. Eine Kritik des Werkes soll in den nächsten Tagen
folgen. Die Aufführung unter der Leitung Schuchs, die einen
außerordentlichen Beifall hatte, stand wieder auf voller Höhe.
Besonders unsere berühmte Kapelle bewährte sich glänzend.
Auch Fräulein Trovani und die Herren Trede und Soot boten
erstklassige Leistungen.
ADOLF SCHUSTERMANN
ZEITUNGSNACHRICHTEN-BUREAG
BERLIN SC. 16, RUNGE-STRASSE 23/27.
Zetung: Hamburger Nachrieffen
7 k.-
Aaresse: Hamburg
Datum:
E.AIG. [„„Der Schleier der Pierrette“.] Aus Dresden wird
uns geschrieben: Am Sonnabend fand die Uraufführung der Pänto¬
mime „Der Schleierder Pierrette“ von Schnitzler und
Dohnanyi im hiesigen Kgl. Opernhause statt. Sie ergab einen
sehr beträchtlichen Erfolg. Wenn der Beifall nur von einem Teile
des Publikums ausging, während der andere Teil Zurückhaltung be¬
wahrte, so liegt dies wohl an dem grausigen Stoffe, der an nerven¬
peitschender Gruseligkeit selbst „Salome“ überbietet. Arthur
Schnitzler, der sonst so feinsinnige Wiener Poet, hat offenbar.
die Absicht gehabt, durch diese Pantomime sich den Modekomponisten
als Textverfasser sensationell=perverser Opern zu empfehlen und
mutet demgemäß den Zuschauern allzuviel zu. Die Handlung ist¬
etwa folgende: Pierrette ist dem jungen Pierrot untreu geworden
und hat sich mit Arlekino verheiratet. Pierrot erduldet, vor dem
Bilde seiner Angebeteten sitzend, alle Qualen verschmähter Liebe,
da kommt Pierrette im vollen Hochzeitsstaat, mit Brautkranz und
Schleier zu ihm. Es entspinnt sich eine heiße Liebesszene, die in
ein kleines Mahl zu Zweien übergeht. Da macht der verzweifelte
Pierrot der Geliebten den Vorschlag, mit ihm vereint in den Tod
zu gehen. Er schenkt zwei Gläser voll Gifttrank, doch sie weigert sich;
endlich scheint sie nach langem Zureden einzuwilligen. Pierrot leert
den Becher und sinkt bald tot zu Boden, nachdem er noch mit brechen¬
dem Auge hat sehen müssen, daß Pierrette das Glas mit dem Gift¬
trank von sich geworfen hat. Entsetzt flieht sie aus dem Gemach des
Toten und eilt wieder in ihr elterliches Haus, wo der Hochzeitstanz
im vollen Zuge ist. Die dringenden Fragen des eifersüchtigen
Gatten nach ihrem Verbleiben beantwortet sie zunächst mit Aus¬
flüchten, auf einmal erblickt sie den toten Pierrot, der ihr gespenstisch!
entgegentritt mit dem Schleier in der Hand, den Pierrette im Zim,
mer des Toten bei ihrer wilden Flucht zurückließ. Arlekino, der das
Fehlen des Schleiers bemerkt, entreißt der Gepeinigten schließlich.
das Geständnis, wo sie ihn hat liegen lassen. Arlekino begleitet
Pierrette in das Zimmer, in dem der arme Pierrot tot und starr
am Boden liegt. Arlekino sieht das Bild Pierrettens, den Leichnam
und die Reste des Mahles und begreift, was vorgefallen. Seine
Rache ist grausig. Er schleppt den Toten zum Sofa und setzt ihn
dort halb aufrecht an den Platz, den er einst beim Tete=a=tete mit
Pierrette eingenommen hat. Dann trinkt er dem Leichnam höhnisch
zu und zwingt Pierrette ein Gleiches zu tun. Nach diesem Gelage
mit dem Toten verläßt Arlekino seine ungetreue Braut, die sich nun
mit der Leiche eingeschlossen sieht. Das Grausen raubt ihr den
Verstand und im Wahnsinne kokettiert sie mit dem toten Liebhaber
und tanzt vor ihm einen verlockend wilden Tanz, um endlich tot
neben Pierrot zusammenzubrechen. Daß die Musik, die Ernst
von Dohnanyi zu dieser Handlung geschrieben hat, für den
entsetzlichen dritten Akt nicht ausreicht, halte ich für einen erfreu¬
lichen Beweis dafür, daß sein Talent noch nicht überreizt ist. Hier
ruft man ordentlich nach Richard Strauß, der vielleicht einzig dieser
grimmigen Verhöhnung der Majestat des Todes hätte musikalisch bei¬
kommen können. Im übrigen aber offenbart die Musik des noch
jungen Komponisten nicht nur frische Melodik und aparte Rhythmik,
sondern auch dramatischen Schwung und klangliches Ausdrucksver¬
mögen. Die Instrumentation ist außerordentlich klug berechnet und
zahlreiche eigenartige Klangeffekte entsprechen den Höhepunkten der
Handlung. Die Aufführung war vom Hofballettmeister Berger
mit großer Sorgfalt vorbereitet. Die Hauptpartien waren mit
Opernkräften besetzt. Eine glänzende Kostümierung im Altwiener
Schnitt sorgte für farbenschöne Bilder. Am Dirigentenpulte saß
Ernst v. Schuch, der den musikalischen Teil des Werkes vorzüglich
herausarbeitete und deshalb stürmischer gefeiert wurde als der
Komponist, der mit den Hauptdarstellern zahlreichen Hervorrufen
Folge leisten durfte.
box 27/5
Telsphos 12.891.
„UDOERTER
öeterr. bebördl. konz. Unternehmen für Zeitungs-Ausschaltte
Wien, I., Concordiaplatz 4.
Vertretungen
s Berlin, Basel, Budapest, Chicago, Cleveland, Christiania,
Oeni, Kopenhagen, London, Madrid, Mailand, Minneapolis.
New-Vork, Paris, Rom, San Francisco, Stockholm, St. Peters¬
burg, Toronto.
(Geelienengabe ohne Gewähr.
Ausschnitt augresdner Generaisäneeiger
24.00l 1910
Dresden
vom:
Ranst und Wissenschaft.
)( Der Schleier der Pierrette. Im Königlichen, Opern¬
hause erlebte am Sonnabend Artur Schnitzlers Pansamime
„Der Schleier der Pierrette“ seine Urk Der Dichter
entlehnte den düsteren Stoff des Werkes seinem bereits literarisch
bekannten Drama „Der Schleier der Beatrice". Er behandelt
in der Hauptsache das Liebesdrama einer Pierrette, dessen tra¬
gischer Abschluß allerdings mehr für starknervige Personen be¬
stimmt ist. Die Musik hat Professor Erntt von Dohnanyi
geschrieben. Eine Kritik des Werkes soll in den nächsten Tagen
folgen. Die Aufführung unter der Leitung Schuchs, die einen
außerordentlichen Beifall hatte, stand wieder auf voller Höhe.
Besonders unsere berühmte Kapelle bewährte sich glänzend.
Auch Fräulein Trovani und die Herren Trede und Soot boten
erstklassige Leistungen.