II, Theaterstücke 23, Der Schleier der Pierrette, Seite 9

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23. Der Schleier der Pierrette
Die Herren Artur Schnitzler und Ernst v. Dohnanyt
scheinen dieses Publikum genau studert zu haben. Sie haben mit
hrer musikalischen Pantomime, die am Sonnabend in Dresden ihre
Uraufführung erlebte, ins Schwarze getroffen: Das Publikum, das be¬
kannte ausschließlich hochvornehme Dresdner Hosthaaterpublikum, raste
vor Begeisterung. Der Komponist wurde nur io herausgeschrien, zehn¬
mal mindestens. Herr Schnitzler wird es bereuen, daß er es sich hat
entgehen lassen, an diesem Triumph teilzunehmen. Denn er ist doch
schließlich der Vater der Idee.
Die Idee ist überhaupt das Wesentliche am Tex.buch. Der
Einfall, ein tragisch gewendetes Maskenipiel auf die Opernbühne zu
verpflanzen und die Opernsänger als stumme Schausvieler zu ver¬
wenden. Einzig deshalb, weil die ganze Pantomime von Mufik be¬
gleitet ist, abo nur dem Orchester zuliebe, findet die Aufführung des
„Schleiers der Pierrette“ im Overnhaus statt. Was auf der Bühne
vorgeht, paßte besser ins Schauspielhaus, weil die Schauspieler durch¬
weg bessere Mimiker sind als das Opernperional — wenn nicht gar
in den Zirkus. Im Kabaret wenigstens habe ich ichon ähnliche Dinge
gelehen. Was da gespielt wird, ist das: Pierrot ist unglücklich ver¬
liebe er wühlt in Briefen und Blumien am Schreibtisch und läßt den
Kepf hängen, wirft sich schließlich auf den Diwan. Freunde und
Freundinnen kommen, um ihn abzuholen, mit einem Klavier¬
vieler herein (ist das nicht gesucht?), fnden ihn erst nicht und tanzen
deswegen im Zimmer heium. Er erwacht und wird bestimmt, sie zu
begleiten, schlägr es aber rundweg ab und wird nach vielen vergeb¬
lichen Aufforderungen und Bitten allein gelassen. Da sieht er die Ge¬
liebte kommen, empfängt sie im Vorsaal und führt sie herein. Sie
kommt im Brautstaat. Er ist befremdet. Sie kiebt ihn noch immer,
man umarmt sich heftig. Seinen Vorschlag, zu en fliehen, lehnt sie ab
sie haben beide nichts. Nur einen Rat weiß sie: Gist. Man
schmaußt und trinkt noch einmal zusammen und läßt sich etwas wie
eine ungarische Rhapsodie dazu ivielen (von Doonanyi, nicht von Liszt!),
am Ende schenkt Pierrot das Gift in beide Gläser, er trinkt, sie aber
findet nicht den Mut und als sie es doch tun will, schlägt er ihr im
Umfallen das Glas in Scherben. Pierrots Tod mit Tristan= und
Göterdämmerungsklängen, die sich schon im Voripiel finden, verbrämt
mit Richard Straußischem Schlagwerk. Außerdem ist nur ein breit
ausgesponnener, nach Johann Straußischem (mit dem eben genannten
nicht zu verwechseln!) Rezept gemachter Walter in diesem ersten Akt zu
erwähnen Die Ueberleitung von der schwächlichen Todesmusik zu dem
ießlichen Walzer, der den ganzen zweiten Akt beherrscht, macht Dohnanyi
recht gewaltsam mit langen leeren Touleiterpassagen in den Streichern.
ADOLF SCHUSTERMANN
Dann der zweite Akt: Hochzeitsball bei Pierrettens Eltern. Ver¬
XEITUNGSNACHRICHTEN-BUREAE
schiedene Tänze vom Ballett (die französische Schablone wird wieder
hervorgeholt !, begleitet auf der Bühne von einem Spinett, einer Geige
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BERLIN SC. 16, RUNGE-STRASSE 25/27.
und einer Klarinette, in Wirklichkeit von einem Richard=Strauß=Orchester
von mindestens 80 Mann (solche Wider=prüche scheinen Herrn v. Dohnanyi
nicht zu kümmern!), währenddem der alle finstere Arlekin., auf seine
Zettung, Dresdner Volkszeitung
Braut Pierrette wartet. Die Eltern vermögen schließlich seine Ungeduld
nicht mehr zu bändigen, nirgends ist die Gesuchte zu finden. Arlek no
bekommt einen Tobsuchtsanfall und schlägt das Geschirr am Büffett,
Adresse: Dresden
die Tasten des Klaviers, die Geige und Klarinette ier Musikanten ent¬
2 4.3 00
zwei (die entsprechenden Geräusche jeweils im Orchester dazu gemacht,
Datum:
recht geschickt!), im letzten Augenblicke kommt Pierrette herein, beruhigt
den Bräunigam, will mit ihm tanzen, sieht aber plötzlich den toten
Pierrot, eben o erscheint das Gespenst am Kredenztich, die Flaiche in
der Hand, um ihr einzuschenken. Entsetzen bei ihr, Befremden bei den
übrigen, Fortietzung der Tanzmusik auf den verstimmten, verdorbenen
S undenr.
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Instrumenten (Benefice für den Komponisten); unterdessen wird der Ver¬
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lust des Brautschmucks emtdeckt, Pierrot erscheint mit dem Schleier in
Opernhaus
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der Hand, Pierrette an Arlekinos Hand ihm nach, er verschwindet. Musi¬
kalische Ueberleitung zum dritten Akt. Arlekino betritt mit Pierrette
Uraufführung der Pantomime „Der Schleier der
das Zimmer des toten Pierrot, um den Brautschleier zu holen. Er ent¬
Pierrette“ von Artur Schnitzler, Musik von Ernst
deckt die Leiche, rüttelt ihn, weil er ihn für betrunken hält (der Vor¬
v. Dohnanyi
gang wirkt in seiner brutalen Roheit nur lächerlich!) und erkennt
Wenn eine Kunstgattung heute im argen liegt, so ist es gewiß
schließlich die Wahrheit. (Das ist nur der Anfana, es kommt noch
die Oper. Es herrscht da die größte stilistische Verwirrung. In alter, besser!) Er schleppt die Leiche an den Tiich, setzt sie aufrecht hin und
vorwaanerischer Art, etwa wie Meyerbeer oder noch wie Gonnod, läßt trinkt ihr höhnisch zu. Ihr gegenüber zwingt er Pierrette zum Trinken
sich nicht mehr schreiben, nachdem Wagner theoretisch wie praktisch die und will die Verstörte liebkosen. Sie wehrt sich, er wird immer brünstiger.
alte Oper als unnatürlich, ols dramatisch unvollkommen erwiesen hat.!
Zuletzt, als er nicht zum Ziel kommt, verläßt er das Zimmer nach
Aber im Wagnerschen Stil des großen Musikdramas mit der freien
einigen tiefen Bücklingen, stößt Pierrette, die sich angstvoll an ihn
Verschmelzung von Wort und Ton, mit der Gestaltung des Musikalischen
klammert, von sich und schließt von außen zu. Jetzt ist nur noch eine
rein nur aus der Handlung, aus dem Text heraus mit Verzicht auf
Steigerung möglich: daß Pierrette wahnsinnig wird. Sie führt einen
alle festen Regeln und Vorichriften — das wagt heute auch niemand
immer wilderen Tanz vor dem Toten auf, bis sie tot niedersinkt. In
mehr. Der Wagnersche Stil ist zu persönlich. Die gleichbegabten
der ersten Morgendämmerung tanzen die alten Freunde Pierrots herem,
Nachfolger fehlen. Mit Recht wird immer wieder darauf hingewiesen,
gkauben erst zwei Liebestrunkene vor sich zu haben, bis sie mit Schaudern
daß es viel wichtiger ist, die komische Oper auszubauen, als sich an der
zwei Tote erkennen. Außer dem eintönigen, auf die Dauer langweiligen
Wahnsinnstanz, in dem schrille Klarinettentöne das irrsinnige Lachen
musikalischen Tragödie die Finger zu verbrennen. Leo Blechs „Ver¬
andeuten, enthält dieser Akt nichts Besonderes; den Walzer der Freunde
siegelt“ zeigt, wie dankbar komische Stoffe für den Komvonisten sind.
aus dem ersten mit einem mißtönigen, roh abgerissenen Schluß.
Da war das Vorbild der „Meistersinger“ wirklich fruchtbar, was man
vom „Ring des Nibelungen“ und „Tristan“ nicht ohne weiteres be¬
Alle Mühe und Sorgfalt Ernst v. Schuchs war verschwendet.
haupten kann.
Die Partitur gibt nicht viel her. Man wundert sich, wenn man ins
Nur findet leider die komische Over im modernen Gewande bei
Orchester schaut und den gewaltigen Aufwand an Mitteln sieht, vor
unserem Theaterpublikum wenig Beifall. Die schmutzige Speku¬
allem den riesigen Bläserchor, da doch so wenig Wirkung herauskommt.
lanten=Operette verdirbt den Geschmack an echter Komik — die
Mit einigen artistischen Pikanterien macht man noch lange keine gute
„geschiedene Frau“ hat kürzlich zum 25. Male das Zentraltheater
Oper. Dohnanyis Musik ist im übrigen nicht nur unbedeutend und
gefüllt und ist dafür von der gesamten bürgerlichen Presse mit Aus¬
unoriginell, sondern sie ist auch stillos. Zu einer Pupventrapikomödie
zeichnung bedacht worden. Das Bedürfnis nach Komik allo befriedigt
im Biedermeierkostüm, die nichts bringt als ein paar Kranheien und
man anderswo, im Opernhaus will man die andre Seite der dramatischen
viel Tanzbewegungen, paßt keine Musik mit der Aufmachung der
Kunst kennen lernen. Beileibe ncht etwas Ernstes, Tiefes, wahrhaft
„Salome“. Die Herren Soot (Pierrot), Trede (Arlekino) und
Tragisches, sondern den Nervenkitzel, das raffiniert Schauerliche, das
Berger (Gigolo) und Fräulein Tervani als Pierrene sonnten eben
Krasse. Das war doch im Grunde das Geheimnis des Erfolgs von
nur zeigen, daß sie rein als Schauspieler etwas leisten. Den Pierrot
Richard Strauß' „Salome“ und „Elektra“.
könnte man sich trotzdem beweglicher vorstelen. Fräulein Tervani gab