II, Theaterstücke 23, Der Schleier der Pierrette, Seite 136

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21. 11. 1970
vom:
Frankfurter Theaterbrief.
17. November 1910.
Artur Schnitzler, der Verfasser der „Liebelei“, hat sich in
einen Skoff verrannt, den er jetzt schon verschiedentlich für die
Bühne zu verwerten suchte. Zuerst machte er ein Drama daraus,
das den Titel „Der Schleier der Beatrice“ führte und in der
Renaissancezeit spielte. Es wurde bei Brahm in Berlin gegehen
fand aber nicht den gewünschten Beifall. Damals verlautete die
Kunde, daß Schnitzler eigentlich aus dem ihm ans Herz ge¬
wachsenen Sujet einen pantomimischen „Atelierscherz“ mit heiterem
Ausgang hätte machen wollen. Bei der Pantomime ist er alsdann
geblieben, nachdem es mit dem Drama nichts war. Sie bekam
jedoch keinen fröhlichen Abschluß, sondern im Gegenteil einen recht;
krassen, einen, der fast Salomes wildes Gehabe mit dem Haupt
des Johannes noch übertrifft. Die Handlung des Werkes, das
nunmehr „Der Schleier der Pierette“ heißt, dürfte vol den ber¬
liner Aufführungen des Dramas her noch bekannt sein.
Ernst v. Dohnänyi, der als Professor der Musik an der
berliner Hochschule wirkt, hat schon manches gute für den Konzert¬
saal geschrieben. Als Vertoner von Schnitzlers Pantomime tritt er
zum erstenmal als Bühnenkomponist vor die Oeffentlichkeit, u. zw.
mit unzweifelhaftem Erfolge. Besonders das Lyrische, der Ausdruck
des Gefühls und die glänzend instrumentierten Tanzweisen sind
Dohnänyi trefflich gelungen. Für den Schluß gebricht es ihm noch
an dramatischer Kraft. Es wurde dadurch Frl. Sellin, welche
die Pierette mit viel Geschick darstellte, die schwierige Aufgabe nicht
erleichtert. Brinkmann, Wirl und Hauck, sie alle gaben sich
Mühe, die durchaus nicht leichten Rollen sicher und gut durchzu¬
führen, so daß die Novität freundlichsten Beifall fand.
Schnitzlers Pantomime ging die graziöse Kleinigkeit von
Kalbeck, „Susannens Geheimnis“ mit der Musik von Wolf=Ferrari
voraus. Der Komponist hat den besseren Teil gewählt, denn die
kleine Handlung, die der Verfasser dem Französischen entlehnte,
wäre ohne die prickelnde Musik ein Nichts. Wolf=Ferrari aber hat
sie so schmuck herausgeputzt und schon in der Ouvertüre so viel
Schick entfaltet, daß das Publikum sofort in Stimmung kam, noch
bevor sich der Vorhang hob.
Herr Robert Hutt, vom düsseldorfer Stadttheater, setzt sein
Gastspiel hier fort. Warum der Künstler gerade als Faust heraus¬
gestellt wurde, ist schleierhaft. Es laufen bei uns so viele „Fäuste“
herum, die — trotz mancher Vorzüge des Gastes — besser sind
als Herr Hutt, daß man sich das Experimentieren gerade mit
dieser Partie hätte sparen können.
Madame Cahier, von der wiener Hofoper, sang hier in
einem Konzert und errang mit ihrer wundervollen Altstimme
stürmischen Beifall.
Und nun zu den Schauspielhäusern. Im städtischen wurde,
auch als Novität, der Schwank von Kurt Kraatz „O diese Leut¬
nants“ aufgeführt und mit Beifall, der den Verfasser vor die
Rampe rief, ausgenommen. Ist man etwas in der Lustspielliteratur
bewandert, so drängt sich bei diesem Schwanke einem unwillkürlich
die Frage auf: wie viele Autoren eigentlich zu rusen gewesen
wären, denn in dem Werke des einen Kurt Kraatz feiern viele,
viele Schwankizenen entschwundener Tage und längst vergessene
Autoren fröhliche Auferstehung. Doch was tut's? Kraatz ist
ein famoser Bühnenkenner und sagt sich: greift nur hinein in den
Wust vergessener Lustspiele und was ihr packt, das macht dann
amüsant! Und auf amüsante, wirksame Szenen versteht er sich,
ebenso wie gutgeratenen, aber vergessenen Figuren wieder auf die
Beine zu helfen, damit sie zu neuem, modernem Leben erwachen.
Da ist die radebrechende Amerikanerin, mit „das eklige Million“,
nebenbei von Garda Irmen geradezu entzückend dargestellt
da ist der verarmte Leutnant, der, um seinen (wie der selige
Klingsberg) lebenden Papa zu retten, eine reiche Heirat sucht und
dann natürlich nur aus Liebe die Millionärin zur Frau nimmt;
da ist der Backsisch, welcher vom Gelde nichts versteht, der Diener,
der immer zur unrechten Zeit kommt, — kurz: das ganze Einmal¬
eins guter alter Lustspielfiguren und Szenen marschiert, gut ge¬
drillt, vor dem Zuschauer auf. Jedoch man amüsiert sich und das
ist die Hauptsache. Drum sei bedankt, mein lieber Kraatz!
Die letzte Matinee im Komödienhaus galt dem „Gio¬
vanni di Boccaccio“ und einem Tag aus dem „Decamerone".
Wieder in feinkünstlerischer Weise inszeniert, fand die Veranstaltung
großen Beifall. — Roda=Rodas und Rößlers „Feldherrnhügel“
macht allabendlich volle Häuser und bleibt auch für die nächste
Zeit noch auf dem Repertoire des Kon ödienhauses.
Sans-Gerr