II, Theaterstücke 23, Der Schleier der Pierrette, Seite 139

box 27/5
23. Der Schleier der Bierrette
Kerbett, die Aufständischen in Masenderan zu unter¬
„rordatte der stützen. Nach dem Protokoll über die Abdankung des Schahs geht
[Kammer schloß gestern, nachdem der Sozialist Thomas trotzs er dadurch seines Jahresgehalts verlustig. Der Minister des
der Darlegungen Briands und Millerands abermals behauptet Aeußern ist auch entschlossen es zu streichen.
Es fragt sich aber,
hatte, die Regierung habe schon gegen das Streikkomitee als ob Rußland dies zugeben wird.
solches repressive Maßregeln ergriffen, und nicht deshalb, weil
gleichfalls dem Bau von Koehler Volckmar eingefügt werden wird. kung geschaffen hat, versteht sich ja beinahe von selbst. Nichts¬
Es bildet sich also anscheinend in der Tat hier ein mächtiges,
destoweniger sei die Handlung mit einigen Worten angedeutet:
monopolistisches Zwischenglied zwischen Verleger und Sortimen= Pierrot ist mit seinem Schmerz allein in seinem Zimmer. Er
ter, von dem ein schärferer Einfluß auf den Büchermarkt zunächst
trauert um Pierrette, deren Hochzeit mit Arlechino gerade ge¬
allezdings wohl noch kaum zu befürchten ist.
feiert wird. Aber Pierrette liebt ihren finsteren Bräutigam nicht,
gck
der ihr von den Eltern aufgezwungen worden ist. Nun kommt
sie unvermutet in bräutlichem Schmuck in Pierrots Wohnung, um
Theater und Mlulik.
gemeinsam mit dem Geliebten zu sterben. Pierrot schüttet
Stadttheater. Zwei Novitäten an einem Abend. Beide
das Gift, das sie mitgebracht, in zwei Weingläser und setzt mit fester
kleines Genre, bei dem die Form alles ist. Beide ein Spiel abseits
Hand sein Glas an die Lippen, um es bis auf die Neige zu leeren.
75— Wirklichkeit im Stile der commedia dell' arte, von der die
Nun verläßt Pierrette der Mut, und sie bringt es nicht über
offlichen Voraussetzungen offensichtlich ihre Herkunft ableiten.
sich, dem Geliebten Bescheid zu tun. Pierrot schlägt ihr verächt¬
4 Beide geschmackvoll gemacht, ohne große künstlerische Impulse,
lich das Glas aus der Hand und sinkt dann tot zu Boden. Pier¬
dafür aher auch ohne ernstliche Schwächen. Und wenn beide auch
rette beugt sich zu ihm nieder, betrachtet ihn mit wachsendem
im Charakter voneinander grundverschieden sind — das eine ist! Schauder, bis sie endlich begreift, daß er tot ist, und von Ent¬
eine Tragödie, das andere ein Lustspiel —, so gehören sie doch
setzen gepackt, stürzt sie, ihren Schleier zurücklassend, davon. Die
zusammen wie Avers und Revers einer Münze, die den Wert
Musik leitet ohne Pause zum zweiten Bild über, das in einem
des Lebens ausdrückt, von dem uns hier im Spiele ein Abbild
Festsaal inmitten einer animierten Hochzeitsgesellschaft den voll
gegeben wird. Aber auch ohne diese Werteinheit passen beide
Ungeduld die Braut erwartenden Arlechino zeigt. Endlich kommt
Stücke vorzüglich zueinander, denn daß die Tragödie uns keinen
sie, bleich und verstört. Während sie mit dem Bräutigam tanzt,
Stein auf die Seele wälzt, dafür sorgt schon ihr Charakter als
erscheint ihr dreimal mit dem Brautschleier winkend der tote
Spiel außerhalb der Wirklichkeit, der die Tragik zu einem Im¬
Pierrot. Schließlich merkt Arlechino, daß sie den Schleier ver¬
ponderabile verflüchtigt und den Konflikt in geschmackvolle Weh¬
loren hat, und er befiehlt ihr, ihn zu suchen. Pierrette geht dem
mut auflöst, der selbst die Anmut nicht fehlt. Denn wenn Pierrot
immer noch mit dem Schleier winkenden Scheinbilde des toten
stirbt, so kann eine ernste Trauer nicht aufkommen, weil er durch
Pierrot nach, und so verläßt sie mit Arlechino den Festsaal. Die
seinen Tod — er stirbt ja tausend Tode — die Unzerstörbarkeit
Musik leitet auch jetzt wieder ohne Pause zum folgenden Bilde
seines wahren Wesens immer. aufs neue beweist. Und wenn
in Pierrots Wohnung über. Pierrot liegt tot hingestreckt auf
Pierrette ihre Natur verleugnet und allen Ernstes ihrem Pierrot
dem Boden, die Lichter sind größtenteils herabgebrannt und zum
ins Wesenlose folgt, um die Tragödie von Romeo und Julie auf
Teil erloschen, und der Schleier liegt in der Mitte des dunklen
dem Maskenball vollständig zu machen, so behält die Wehmut,
Zimmers. Arlechino, der mit Pierrette eintritt, errät bald den
die ihr tanzendes Sterben auslöst, einen Beigeschmack von
Zusammenhang, und in fürchterlichem Zorn rächt er sich auf eine
Koketterie.
wahrhaft diabolische Weise: Er trägt den toten Pierrot zum
Um die Tragödie von Pierrot und Pierrette handelt es sich
Diwan und lehnt ihn in die Ecke, dann zwingt er die entsetzte
in dem Stück, das den Abend eröffnete: „Der Schleier der
Pierrette, dem Toten zuzutrinken, und schließlich läßt er sie, die
Pierrette“, Pantomime in drei Bildern von Antuechiter.
Tür hinter sich verriegelnd, mit dem Leichnam allein, der sie aus
Musik von Ernst Dohnänyi. Damit ist nach derporstehenden
seiner Sofaecke mit seinen weitgeöffneten Augen zu verfolgen
Andeutungen im Grunde alles gesagt, was über das Stück zu
scheint. Ihr Entsetzen steigert sich schließlich zum Wahnsinn, sie
sagen ist. Denn daß Artur Schnitzler, der in der Welt der
tanzt in grauenhafter Ekstase, und als von außen gewaltsam die
Marionetten und in allen Stilkünsten erfahrene seinsinnige
Tür geöffnet wird, sinkt sie tot zu den Füßen des toten Pierrot
Wiener Dichter, dem das ganze Leben zu einem Stil= und Spiel¬
nieder. — Wie schon gesagt, hat Ernst von Dohnänyi dieser stummen
Problem der verfeinerten Kultur geworden zu sein scheint, zu
Handlung einen musikalischen Hintergrund von aufreizender Ein¬
der Pantomime eine Handlung von klarster Prägung und von
dringlichkeit geschaffen. Wenn sich auch in den Motiven mancherlei
innerer, das heißt in diesem Falle von stilistischer Wahrheit ent¬
Anklänge an Richard Wagner, Richard Strauß und ältere Kom¬
worsen und daß Ernst von Dohnänyi, der auch als Komponist
ponisten finden, so schaltet er doch mit diesem Rohmaterial nach
nicht mehr unbekannte berühmte Pianist, für diese Handlung eigenem künstlerischen Empfinden. Die Musik ist bei aller Klar¬
einen musikalischen Stimmungshintergrund von suggestiver Wir= heit und Durchsichtigkeit immer charaktervoll und versteht es vor