II, Theaterstücke 23, Der Schleier der Pierrette, Seite 207

23. Der Schleien der pierrette
ScARFMIT
# Haitung, Wien

(Kleie Ausgabel
Hofoperntheater.
[Caruso als Canio in „Bajazzo“. „Der
Schleier
er Pierette" von
Artur
Schnitzler und Ernst v. Dohnanyi.
Der diesläligen Wiederkehr des berühmtesten aller
lebenden Gesangskünstler war ein Samum von Sensation
vorhergegangen. Der gestrige Abend wollte die Aufregung
nicht ganz rechtfertigen. Fünsundvierzigtausend Kronen
Honorar für dreimaliges Auftreten, ungeheuerer An¬
drang bei den Vormerkungen, dreimaliges Ueberzeichnen
des Theaters — und dann die dürstige Partie des
Canio, drei kurze Gesangsstellen, von denen nur
die mittlere, „Vesti la giubba
ridi pagliaccio“,
die eigentliche Kunst Carusos ganz aufleuchten läßt. Die
Begeisterung konnte sich nicht ausleben, vielleicht auch
darum nicht, weil unser scharf urteilendes Publikum die
Empfindung hatte, es geschehe nicht allein aus künst¬
lerisch bemessener Absicht, wenn Caruso die
derben gesanglichen
Effeltstellen der Partie ver¬
edelte. Aber jene Arie am Abschluß des ersten
Teiles war ein prächtiger Solitär. Zum Schluß des
ersten
Teiles wollte man durch anhaltenden Applaus eine
Wiederholung der Arie erzwingen. Caruso erschien
dankend,
aber
oft
wie erschöpft
der vorheigegangenen Emotion und wiederholte nicht. Und
als über den zwei Leichen das „La commedia
6 finita“
erklang, schien die richtige, enthusiastische
Wärme¬
temperatur noch nicht gekommen zu sein.
Unsere
Einheimischen, Frau Kiurina, die Herren Schwarz,
Preuß und Rittmann bemühten sich, in dem
Glanze des Abends zu bestehen.
Dem „Bajazzo“ vorhergeschickt war eine verschärfte
Ausgabe dieser Komödie. Eine befremdliche, unzweckmäßige
Zusammenstellung. Die neue Pantomime von Artur
[Schnitzler und Ernst v. Dohnanyi „Der
Schleier der Pierette“ ist nichts anderes, als eine
gemimte Variation des gesungenen „Bajazzo“. Bajazzo
hat Colombine getötet, weil er sie untreu besunden,
Arlechino beeilt sich dagegen, an der ungetreuen Pierette
das Rächeramt zu vollführen. Nur die Methode ist eine
andere. Aber es sollte doch, meinen wir, gerade für einen
Bühnenabend das so einleuchtende Sprüchlein gelten:
Nicht zweimal dasselbe!
Die Musik Ernst v. Dohnanyis, des bekannten
Klaviervirtuosen, der auch als Komponist sich durch
Geist und Temperament vorteilhaft bemerkbar gemacht
hat und seit einigen Jahren an der Berliner Musik¬
hochschule in erster Stellung wirkt, hat die Vorzüge der
Modernität. Ueberall viel kompositorisches Können, das
sich in reicher, mitunter kühner Harmonik ausspricht,
guter Geschmack, der sich zu beherrschen weiß und den
drohenden Gefahren der Uebertreibung entgeht.
Das entgegenkommend gestimmte Publikum nahm
die Pantomime recht freundlich auf, ließ die graziösen
Schauer der Danse macabre des Fräuleins Jamrich
als Pierette auf sich wirken, anerkannte die hoffmanneske
Erscheinung Godlewskis als Arlechino, die gute
Haltung des Herrn Czadill als Pierrot. Auch Herr
van Hamme als geschäftiger Tanzarrangeur, die
Damen Peterka und Wopalensky, die Herren
Dubois und Rathner machten sich angenehm be¬
merkbar. Herr Schalk waltete am Dirigentenpult.
box 28/1
a, Mallanld,
New-Vork, Faris, Kom, San Francisco, Stockholm, St. Peters¬
burg, Toronto.
(Quelienapgabe ohne Gewähr).
Auschnttrigfer. Volks Zoitung, Wier
S 1911
vom:
Cheater und Kunst.
Hofoperntheater.
Caruso als Canio in „Bajazzo“. „Der
Schleier
der Pierette" von Artur
Schnitzler und Ernst v. Dohnanyi.
Der diesmaligen Wiederkehr des berühmtesten aller
lebenden Gesangskünstler war ein Samum von Sensation
vorhergegangen. Der gestrige Abend wollte die Aufregung
nicht ganz rechtfertigen. Fünfundvierzigtausend Kronen—
Honorar für dreimaliges Auftreten, ungeheuerer An¬
drang bei den Vormerkungen, dreimaliges Ueberzeichnen
des Theaters — und dann die dürftige Partie des
Canio, drei kurze Gesangsstellen, von denen nur
die mittlere, „Vesti la giubba — ridi pagliaccio“.
die eigentliche Kunst Carusos ganz aufleuchten läßt. Die
Begeisterung konnte sich nicht ausleben, vielleicht auch
darum nicht, weil unser scharf urteilendes Publikum die
Empfindung hatte, es geschehe nicht allein aus künst.
lerisch bemessener Absicht, wenn Caruso
die
derben gesanglichen Effektstellen der Partie
ver
edelte. Aber jene Arie am Abschluß des ersten
Teiles war ein prächtiger Solitär. Tieses, verzweifeltes
Leid drängte sich in den Ton, gleichwohl waren die
Linien des denkbar kultiviertesten Schöngesanges im
unübertrefflicher Reinheit gezogen. Eine Abhandlung
ließe sich über den Vortrag dieser Arie schreiben und
zur Ergänzung müßte auf die wuchtigen, hochs
dramatischen Akzente verwiesen werden, die den
Künstler auch in der Komödienszene gelingen. Durch¬
weg aber verschmilzt der Gesang mit einer
Darstellung, die, so berechnet sie unstreitig ist, den Ein
ück stärkster Unmittelbarkeit macht. Ist es nicht bei
greiflich, daß die schimmernden künstlerischen Höhepunkt
in ihrer bescheidenen Anzahl die Begier des Publikum,
mehr reizten als befriedigten? Zum Schluß des erstel¬
Teiles wollte man durch anhaltenden Applaus eine
Wiederholung der Arie erzwingen. Caruso erschien
oft
dankend,
aber
wie erschöpft
von
der vorhergegangenen Emotion und wiederholte nicht. Und
als über den zwei Leichen das „La commedia 6 finita“
erklang, schien die richtige, enthusiastische Wärme¬
temperatur noch nicht gekommen zu sein. — Unsere
Einheimischen, Frau Kiurina, die Herren Schwarz,
Preuß und Rittmann bemühten sich, in dem
XGlanze des Abends zu bestehen.
Dem „Bajazzo“ vorhergeschickt war eine verschärfte
Ausgabe dieser Komödie. Eine befremdliche, unzweckmäßige
Zusammenstellung. Die neue Pantomime von Artur
Schnitzler und Ernst v. Dohnanyi „Der
Schleier der Pierette“ ist nichts anderes, als eine
gemimte Variation des gesungenen „Bajazzo“. Bajazzo
hat Colombine getötet, weil er sie untreu befunden,
Arlechino beeilt sich dagegen, an der ungetreuen Pierette
das Rächeramt zu vollführen. Nur die Methode ist eine
andere. Aber es sollte doch, meinen wir, gerade für einen
Bühnenabend das so einleuchtende Sprüchlein gelten:
Nicht zweimal dasselbe!
Die Musik Ernst v. Dohnanyis, des bekannten
Klaviervirtnosen, der auch als Komponist sich durch
Geist und Temperament vorteilhaft bemerkbar gemacht
hat und seit einigen Jahren an der Berliner Musik=


hochschule in erster Stellung wirkt, hat die Vorzüge der
Modernität. Ueberall viel kompositorisches Können, das
sich in reicher, mitunter kühner Harmonik ausspricht,
guter Geschmack, der sich zu beherrschen weiß und den
drohenden Gefahren der Uebertreibung entgeht, eine hoch
über das Handwerksmäßige emporragende Art, die
Themen zu kombinieren, musikdramatische Beziehungen
herzustellen, die Handlung auszudeuten und zu ver¬
tiefen. Was man an zwingender Eigenart vermissen mag,
dürfte die durchgängige Sorgfalt, die ästhetische Zweck¬
mäßigkeit und die reiche Abwechslung dieser Musik zum
guten Teile ersetzen. Sie gravitiert entschieden nach