II, Theaterstücke 23, Der Schleier der Pierrette, Seite 208


die eigentliche Kunst Carusos ganz aufleuchten läßt. Die
Begeisterung konnte sich nicht ausleben, vielleicht auc
darum nicht, weil unser scharf urteilendes Publikum die
Empfindung hatte, es geschehe nicht allein aus künst
lerisch bemessener Absicht, wenn Carnso die
derben gesanglichen Effektstellen der Partie per
edelte. Aber jene Arie am Abschluß des erster
Teiles war ein prächtiger Solitär. Tiefes, verzweifelte¬
Leid drängte sich in den Ton, gleichwohl waren die
Linien des denkbar kultiviertesten Schöngesanges in
unübertrefflicher Reinheit gezogen. Eine Abhandlung
ließe sich über den Vortrag dieser Arie schreiben und
zur Ergänzung müßte auf die wuchtigen, hoch
dramatischen Akzente verwiesen werden, die den
Künstler auch in der Komödienszene gelingen. Durch¬
weg aber verschmilzt der Gesang mit eine¬
Darstellung, die, so berechnet sie unstreitig ist, den Ein
Shück stärkster Unmittelbarkeit macht. Ist es nicht be
greiflich, daß die schimmernden künstlerischen Höhepunkt
in ihrer bescheidenen Anzahl die Begier des Publikum
mehr reizten als befriedigten? Zum Schluß des erste
Teiles wollte man durch anhaltenden Applaus eine
Wiederholung der Arie erzwingen. Caruso erschien,
oft dankend,
aber
wie erschöpft
von
der vorhergegangenen Emotion und wiederholte nicht. Und
ais über den zwei Leichen das „La commedia 6 finita
erklang, schien die richtige, enthusiastische Wärme¬
temperatur noch nicht gekommen zu sein. — Unsere
Einheimischen, Frau Kiurina, die Herren Schwarz.
Preuß und Rittmann bemühten sich, in dem
Glanze des Abends zu bestehen.
Dem „Bajazzo“ vorhergeschickt war eine verschärfte
Ausgabe dieser Komödie. Eine befremdliche, unzweckmäßige
Zusammenstellung. Die neue Pantomime von Artur
Schnitzler und Ernst v. Dohnanyi „Der
Schleier der Pierette“ ist nichts anderes, als eine
gemimte Variation des gesungenen „Bajazzo“ Bajazzo
hat Colombine getötet, weil er sie untreu befunden,
Arlechino beeilt sich dagegen, an der ungetreuen Pierette
das Rächeramt zu vollführen. Nur die Methode ist eine
andere. Aber es sollte doch, meinen wir, gerade für einen
Bühnenabend das so einleuchtende Sprüchlein gelten:
Nicht zweimal dasselbe!
Die Musik Ernst v. Dohnanyis, des bekannten
Klaviervirtnosen, der auch als Komponist sich durch
Geist und Temperament vorteilhaft bemerkbar gemacht
hat und seit einigen Jahren an der Berliner Musik¬

hochschule in erster Stellung wirkt, hat die Vorzüge der
Modernität. Ueberall viel kompositorisches Können, das
sich in reicher, mitunter kühner Harmonik ausspricht,
guter Geschmack, der sich zu beherrschen weiß und den
drohenden Gefahren der Uebertreibung entgeht, eine hoch
über das Handwerksmäßige emporragende Art, die
Themen zu kombinieren, musikdramatische Beziehungen
herzustellen, die Handlung auszudeuten und zu ver¬
tiefen. Was man an zwingender Eigenart vermissen mag,
dürfte die durchgängige Sorgfalt, die ästhetische Zweck¬
mäßigkeit und die reiche Abwechslung dieser Musik zum
guten Teile ersetzen. Sie gravitiert entschieden nach
Wien. Auch Pierrots und Pierettens Thema
klingen uns vertraut an. Die geschlossenen
Nummern fügen sich charakteristisch ein. So im ersten
Teile der D-dur-Walzer, der noch gegen Schluß zur
Geltung kommt, das schon ins Bizarre hinüberspielende,
gleichsam forcierte Allz marcia beim Abschiedsmahl, der
in den zweiten Teil überleitende, reich gegliederte
Wiener Tanzwalzer, eine Quadrille, ein Menuett, eine
Schnellpolka, zu der die Bässe beim Erscheinen des toten
Pierrot sein melancholisches Thema im Grabestone
kontrapunktieren. Mächtig ins Zeug geht Dohnanyi im
Zwischenspiel zwischen zweiten und dritten Teil, und
wenn wir das hier in Anbetracht der Umstände als zu
viel des Guten empfunden haben mögen, so hat doch die
sichere Handhabung und Steigerung uns in dem
Gedanken bestärkt, daß Dohnanyi sich mit Aussicht auf
Erfolg an ein Werk von bestimmter Stilrichtung wagen
dürfte.
Das entgegenkommend gestimmte Publikum nahm
die Pantomime recht freundlich auf, ließ die graziösen
Schauer der Danse macabre des Fräuleins Jamrich
als Pierette auf sich wirken. anerkannte die hoffmanneske
Erscheinung Godlewskis als Arlechino, die gute
Haltung des Herrn Czadill als Pierrot. Auch Herr
van Hamme als geschäftiger Tanzarrangeur, die
Damen Peterka und Wopalensky, die Herren
[Dubois und Rathner machten sich angenehm be¬
merkbar. Herr Schalk waltete am Dirigentenpult.
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Ausschnitt al
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21
vom:

WIENER ABENDPOE
Theater, Kunst und Literatur.
(Hofoperntheater.) La gente paga — die
Worte Tonios haben für Caruso keinen so bitteren
Sinn. Man zahlte die höchsten Preise, um Caruso zu
hören, aber die entsprechende Sensation war gestern in
der Hofoper nur auf einen halben Abend und in
diesem Abendteile nur auf zwei Szenen beschränkt. Eine
langmächtige, Pantomime „Der Schleier der
Pierrette“ von Artur Schnitzler erdacht, von
Ernst von Dohnänyi vertont, rückte das Ziel des
Abends, Caruso als Bajazzo, weit hinaus. Man mußte
über Leichen schreiten, über die Leichen des Pierrot
und der Pierrette, man mußte bei, deutschen Sängern
Geduld lernen, ehe man von dem vollen Leben der
Kunst Carusos ein Stückchen erhaschen durfte. Hin¬
länglich gequält und ermüdet, begegnete man dem be¬
rühmten Gast. Aber mit dem Erscheinen dieses Bajazzo,
den Caruso nicht nach deutscher Art als einen patheti¬
schen Helden über die Bühne führt, sondern aus
wahrer Volkstümlichkeit hervorholt, mit seinen ersten
Tönen, in denen nicht nur was wir gemeinhin Musik
nennen, sondern eine ganze Persönlichkeit zum Vollen
kommt, wurde sofort ein Strom von Gefühlen ins
Publikum geleitet. Allein ein Darsteller, der, wie Ca¬
ruso, über den reichsten künstlerischen Besitz gebietet,
kann diese freie, kaum mit einem Augenzwinkern an¬
gedeutete Heiterkeit auf dem Karren des Bajazzo so
unbesangen und natürlich, kann diesen Zorn und
Jammer in solcher Wahrheit äußern, die kleinlicher
Hilsen nicht bedarf. Allein ein Sänger, der die Voll¬
sendung ist, kann mit solcher Selbstoerständlichkeit,
welche die technische Arbeit kaum ahnen läßt, die künst¬
lerische Überlegenheit seines Stammes, seiner Schule,
seiner Individualität offenbaren. Man müßte ein
deutscher Tenor sein, um die Kunst Carusos mit dem
rings um Caruso üblichen Hervorstoßen und Aus¬
pressen von Tönen auch nur in Vergleich zu stellen.
Wo jeder Ton, jede Tonreihe für sich ein ganzes
Kunstgebiet repräsentiert, kann schließlich die Härerschafs #
auch bloß durch ein paar Szenen zur Bewunderung
seltener Phänomene der Stimme und der Technik hin
gerissen werden. So ist es gestern auch geschehen....
Artur Schnitzlers „Schleier der Pierrette“ ist mi
seinem Renaissance=Schauspiel
„Der Schleier de
Beatrice" verwandt. Für das liebe Alt=Wien, durch das
die Pantomime den verhängnisvollen Schleier wehel
läßt, ist die Handlung wohl zu grausig. Pierrette be
sucht, nach Sitte Anatols, kurz vor dem Hochzeitsfest
das sie mit Arlechino vereinigen soll, noch einmal de
geliebten Pierrot, den sie zu Gunsten der gut bürgen
lichen Ehe verlassen hatte. Pierrette ist im Brautkleid,
mit Myrte und Schleier. Ein Doppelselbstmord, wie
ihn die Lokalchronik öfters zu erzählen hat, wird in¬
szeniert. Bei dem Abschiedssouper trinkt Pierrot ein
Gift, das Pierrette mitgebracht hat. Pierrette findet den
Mut nicht, das Gleiche zu tun. Er sinkt tot um — sie
flieht zurück in das Leben, zum Hochzeitsfest, läßt
aber den Schleier bei der Leiche zurück. Die Hochzeits¬
gäste und der Bräutigam Arlechino haben Pierrette
im Saale vermißt. Endlich erscheint sie, verstört, von
Wahnbildern geängstigt. Der Geist des toten Pierrot!
verfolgt sie und lockt sie mit dem Schleier hinweg.
Arlechino stürzt ihr nach. Beide eilen in Pierrots
Zimmer. Da liegt der Schleier, weiß schimmernd, im
dunklen Zimmer. Der eifersüchtige Arlechino stößt auf
Pierrot, den er für betrunken hält. Wie er aber ge¬
wahr wird, daß ein Toter auf dem Boden liegt, kommt
er auf einen tückischen Einfall. Er legt den toten Pierrot
in einen Sessel, zwingt mit teuflischem Lächeln Pierrette
herbei; sie muß mit ihm und mit dem Toten sich zu
Tische setzen. Arlechino trinkt ihr und der Leiche zu.
Dann verläßt er die Armste mit der mimischen Ver¬
sicherung: „Du bist ja in guter Gesellschaft!“ Pierrette