II, Theaterstücke 23, Der Schleier der Pierrette, Seite 218

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23. Der Schleiender-Bierrette
Sichere, gewählte Satz= und Orchestertechnik läßt seine) vor dem Todestranke an „Tristan“ erinnern — wer würde
Partitur so wenig vermissen, wie Anschmiegsamkeit an den
ihnen gerade diese Reminiszenz übelnehmen? Der
szenischen Vorgang. Nur daß das, was sich anschmiegt,
kleine Walzer, den der Klavierspieler vorträgt oder vor¬
wenig neu oder bedeutend ist. Der Anschluß an die Szene
tragen sollte, ist ein wenig zu salonmäßig zugeschnitten;
wird durch Anreihung kleiner und kleinster Glieder, durch
das vorgeschriebene Spinett hätte seinen Charakter be¬
den Wechsel von dramatisch illustrierenden motivischen Sätz¬
stimmen müssen. Dieser Walzer verdient aber jedenfalls
chen und Tanzperioden gefördert; ein Stil, der Pantomime
vor dem in C den Vorzug, der das zweite Bild einleitet.
sicherlich angemessen und von den älteren Komponisten
Ein inspirationsloser, ignobler Johann Strauß=Nachguß,
so wenig verschmäht wie von Delibes oder Nedbal. Aber,
der empfindlich aus dem Stile fällt. Zeitgemäßer und an¬
wie gesagt, die motivische und melodische Substanz hat
mutiger klingt das folgende Menuett. Der cholerische
wenig individuelles Gepräge und schwingt sich nur ver¬
Arlechino hält sich von Bombast nicht frei; die kakophone
einzelt zu einigem Reiz oder tieferer Ausdruckskraft auf.
Schnellpolka mit verstümmelten Instrumenten — ähnlich
Man sehe die zwei wichtigsten Themen darauf an: das
hat schon Mozart gescherzt — war in ihren Zufälligkeiten
des Pierrot mit seinem abgegriffenen Wagner=Pathos, wie
nicht schwer zu ersinnen. Daß der tote Pierrot sehr passend
das der Pierrette mit seiner verwischten Carmen=Färbung.
zu dieser „schauerlichen" Musik erscheint, hatte der Dichter
Wiederholt fühlt man, wie der gediegene Musiker all seine
vorgezeichnet. Ein Zwischenspiel, das die Bläser brüllen
Feinheit, der geistreiche seinen Witz aufbieten muß, damit
läßt, ohne sich trotzdem Gehör zu schaffen, führt in
ihm die Charakteristik nicht in leere Opernschablone gleite
Pierrots Wohnung zurück. Wenn Arlechino Pierrette zu
oder vollends der hohlen Ballettgeste verfalle. Tod,
Tische nötigt, ertönt geistreich eine Variante der Marsch¬
Gespensterspuk, Wahnsinn — daran mußte sich die Phan¬
musik aus dem ersten Bilde. Pierrettens Entsetzen ist mit
tasie des Komponisten heißlaufen können, wenn sie von der
fahrigen Rhythmen gezeichnet, die allmählich irre zu reden
unseren Besitz ergreifen wollte. Der Stoff forderte etwas
beginnen. Das dauert ein wenig lange, wie so manches
von jener nervenerrengenden Angstmusik, wie sie die
in der Pantomime. Bis der Wahnsinnswalzer (in
Mahler, Strauß, Dukas zu machen wissen, und hätte zu¬
F-moll) ausbricht, der mit krausem Chroma, unver¬
mindest jenen Offenbach gebraucht, der den letzten Akt
mittelten Sprüngen, irrer Harmonik, wirren (auch lichten)
von „Hossmanns Erzählungen“ geschrieben hat. Dohnanyis
Intervallen den Wahnsinn selbst charakterisieren will. Ein
Musik wendet manches geistvolle Detail, manchen charakteri¬
Ehrgeiz, der dem Walzer der Lucia fremd ist; aber auch
stischen Klang auf; aber seine Dramatik des Unheil¬
Saint=Saens' „Danse macahre“, ein hinlänglich charak¬
schwangeren, Grauenvollen überzeugt nicht. Dem Sterben
teristisches Stück, läßt etwa die Spuren der Verwesung
geht das dramatische Leben ab, der gespenstische Geist be¬
nicht in die Musik selbst eindringen. Dennoch will sich
genügt sich, mit Geist zu spuken, der Wahnsinn hat zu
auch in dieser letzten entscheidenden Szene der Pantomime
viel Methode.
die beabsichtigte Wirkung nicht einstellen. Der starke, aus¬
Im ersten Bild fällt das feine marschartige
druckskräftige, ungezwungene musikalische Einfall mangelt,
Sätzchen*
das
auf,
Pierrots und Pierrettes
der mitreißende dramatische Furor noch mehr. Hier aber
letztes Mahl begleitet. In seiner zwiespältigen
dürfte der Zuschauer ja nicht zur Besinnung kommen. Es
Stimmung, in seinem Schwanken zwischen Dur und Moll
ist fatal, wenn er gerade, da der Vorhang zum letztenmal
ist es dem unheimlichen Hochzeitsmarsche in. „Enkyanthe“
über dem verhängnisvollen Pierrettenschleier fallen soll,
verwandt. Daß sich die Liebenden in der letzten Exstase
merken muß, wie rissig das schwache Gewebe des Dichters
*) Seite 27 des im Verlage von Bernhard Herzmansky] in der Hand des Musikers geworden ist.
erschienenen geschmackvoll ausgestatteten Klavierauszuges.
Julius Korngold.