II, Theaterstücke 23, Der Schleier der Pierrette, Seite 220

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wer dabei am meisten zu gewinnen hoffte, das waren
die „glücklichen“ Autoren der Pantomime, die vor dem
Auftreten Carusos zum erstenmal gegeben wurde. Eine
solche Premiere ward doch noch nicht erlebt.
Ja, in der Tat! Eine solche Premiere ward —
zum mindesten selten erlebt. Ein Dichter wie Schnitzler,
ein Musiker wie Dohnanyi, eine neue, originelle Auf¬
gabe für die mimischen Kräfte der Hofoper, das
glänzendste Publikum, allgemeine Spannung — und
dann war es nichts, rein gar nichts, schlimmer als
nichts. Das Trügerische des Werkes kennzeichnet sich
schon im Titel. Der Schleier ist nämlich vollkommen
überflüssig. Ein Liebespaar will gemeinsam in den
Tod gehen. Aber im letzten Augenblicke entsinkt der
Liebenden der Mut. Er stirbt, sie bleibt am Leben,
und wird Braut eines anderen. Doch der Tote er¬
scheint ihr beim Hochzeitsfeste und holt sie zu sich
in seine Wohnung, und der Bräutigam rächt sich an
der Braut, indem er sie mit dem Leichnam einsperrt.
Sie wird wahnsinnig und stirbt nun gleichfalls. Alle
diese Vorgänge ließen sich auch ohne das Requisit des
Schleiers darstellen, dem nicht einmal symbolische Be¬
deutung zukommt. Auch sonst ist das Stück sehr ober¬
flächlich, ohne jede Vertiefung zusammengefügt. Solch
baual=sentimentale Liebesgeschichten im Biedermeier¬
kostüm mit einem pervers=gruseligen Schlußeffekt
schreiben unsere Artisten und Asthelen aus dem Hand¬
geienk. Dazu war kein Artur Schnitzler nötig.
Aber vielleicht war wirklich ein Ernst von Dohnanyi
dazu nötig, um eine so unpassende und langweilige
Musik zutage zu fördern, wie sie gestern als Begleitung
der Pantomime erklungen ist. Der berühmte Klavier¬
spieler, der bisher auch als schaffender Künstler ganz
gute Figur machte, hat seine ausgesprochene Unfähigkeit
erwiesen, für die Bühne zu schreiben, sich einem
dichterischen Entwurse und den Forderungen der Szene
anzupassen. Jeder seichte Operettenkomponist weiß
besser Bescheid in den Aufgaben, die hier gestellt waren:
Wo blieb das vierrothafte Getändel, wo die Alt=Wiener
Tanzstimmung, wo vor allem die genaue Übereinstim¬
mung der melodisch=rhythmischen Bildungen mit der
Handlung und der Mimik? Die Regie des Herrn von
Whymetai hat allerdings wieder schwere Fehler be¬
gangen. Aber diese Musik ist überhaupt nicht panto¬
mimisch zu verkörpern, weil sie selbst den Inhalt der
Pantomime nicht in Tönen ausdrückt. Einzig und
allein die Tragik dieses Inhaltes verschafft sich in
einem ans Komische streisenden, dröhnenden Pathos
ausdeingemtung. Für den Liebesschmerz Pierrots
w#ia „#####in Not“ aus der Walküre, ein wenig
gedrückt und verbogen, als Hauptmotiv des ganzen
Werkes verwendet und noch manche Weisen Richard
Wagners müssen Intervalle und Klangfarben hergeben
für eine kaum technisch interessante Musik, der jedes
individuelle Gepräge fehlt. So kurz das Stück ist,
Pon
so endlos scheint es zu dauern. Die Mitwirkenden
(Fräulein Jamrich, Herr Godlewski und Herr Czadill)
fühlten sich mehr gelähmt als beflügelt. Eine böse,
niederdrückende Premiere, der es noch zu besonderem
Unheil ausschlug, daß der Abend im Zeichen des
Rummels stand.
Das gewöhnliche Premierenpublikum wäre vielleicht
artiger gewesen. Aber diesmal war es das Caruso¬
Publikum, das für sein Geld auch einen Genuß haben
wollte und schon dadurch ungeduldig wurde, daß es
so lange auf den Bajazzo warten mußte. Pierrot und
Pierrette wurden in Gegenwart des Hofes, des Adels
und des Reichtums von Wien mit dem eisigen Schweigen
der Ruhigen und Vornehmen, dem leidenschaftlichen
Zischen der Temperamentvollen und dem verlegenen
Klatschen einiger Wohlmeinenden, die wenigstens den
Mii
bezeigen wollten, recht unfeierlich
igen. Aus der unverdienten Ehrung,
zu Grute
die die Hofoper den Autoren erwiesen hatte, war eine
verdiente, aber immerhin peinliche Kränkung geworden.
Sogar die Stimmung für Caruso war verdorben,
##astosen Leistung als —
manen und e hunt ung,.
25 S 1911
vom:
Theater und Kunst.
Hofoperntheater. Einen Sensationsabend erster
Ordnung gab es am vorigen Mittwoch im Hofoperntheater:
Die Erstaufführung der Pantomime „Der Schleier
der Pierette“ von niemand geringerem als den
Herren Scitler und Dohnanyi und dann das erste
Auftreten Carusos in seinem dreitägigen Gastspiel als
Canio in Leoncavallos „Bajazzo“. — Die Pantomime, die
stofflich eine Umänderung der Handlung des „Schleiers der
Beatrice“ beinhaltet, ist ein Stück „Totentanz“ bizarr
pikant, schauerlich, abstoßend, beidermeierisch=grazios,
auch ein wenig satyrisch, alles zusammengenommen aber
nicht sonderlich packend. Die Musik ist der Eindrücksfähig¬
keit des Werkes nicht sonderlich zu Hilfe gekommen, obzwvar
der Komponist, ein ehrlicher Musiker, in allen Mitteln des
Ausdruckes Bescheid weiß. Der Mangel bei ihm liegt in der
Tiefe der Erfindung, die ihm fehlt. Der Inhalt der Panto¬
mime ist kurz folgender: Pierette, eine Wiener Hausherrn¬
tochter aus der Zeit der politierten Möbel und des
Paradeisgartels kann ihren geliebten Pierrot nicht heira¬
ten, sondern wird dem, Arlechino einem Alt=Wiener
Fabrikantenssohne bestimmt. Von den Hochzeitsfeierlich¬
keiten weg eilt sie im Brautschleier heimlich in die Woh¬
nung Pierrots, den Tod mit ihm durch mitgebrachtes Gift
einem Leben an der Seite eines Ungeliebten vorziehend.
Nach einer heißen Liebesszene verläßt sie aber im ent¬
scheidenden Momente der Todesmut und während Pierrot
das Giftglas leert, entgleitet das ihre der zitternden Hand
und zerschellt. Pierrot stirbt und von Entsetzen gepackt,
eilt Pierette in das festliche Vaterhaus zurück, wo sie bei
den tanzenden Gästen schon unruhig vermißt wird. Den
forschenden Bräutigam will sie im Tanze beschwichtigen,
da erscheint ihr der tote Pierrot und voll Grauen bricht sie
zusammen. Um ihre Labung bemüht bemerkt Arlechino,
das Fehlen ihres Schleiers. Dieser war neben der Leiche
Pierrots liegen geblieben. Und als Pierette nach einer
Ausflucht sucht, erscheint neuerdings das Gespenst Pierrots
den Schleier haltend. Den Hallunciationen folgend wandelt
Pierette von Arlechino gefolgt dem entschwebenden Schleier
nach, bis ins Zimmer Pierrots. Dort wird Arlechino das
Geschehene klar, und von eifervoller Wut gepeinigt, ver¬
anstaltet er mit dem Toten und dem entsetzten Weibe ein
Gelage zu Dreien. Zum Schlusse verläßt er das Zimmer
und sperrt es ab. Mit dem Toten allein verfällt Pierrette
dem Irrsinn und in wahnwitzigem Tanze bricht sie tot
nieder, als die Hochzeitsgäste, die sie suchen, die versperrte
Tür sprengen.
Der Erfolg der Pantomime war ein, trotz der Mängel
unverdient geringer. Die Darsteller Frl. Jamrich,
Herr Czadill und Herr Godlewski waren redlich um
ihre schwierigen Aufgaben bemüht, wenn auch manches
allzu Balletmäßige der Mimik den Stil und Eindruck des
Spieles schwächte.. Der armselige Beifall des Publikums
wurde noch durch die Ungeduldigen gestört, die nach dem
berühmten „man hat bezahlt ja, will lachen für sein. Geld“
lechzten, aber in dem folgenden Bajazzostücke auch nicht
ganz auf ihre Rechnung kamen. Denn Caruso ist kein
Effekthascher, hat in den „Pagliacci“ wenig zu singen und
wiederholt nichts, wenn der Applaus auch noch so schmeichelt
und fordert. Und so beschränkte sich denn der Genuß der
vielen, die nicht alle werden, die kommen und zahlen, um
dabei gewesen zu sein, auf die handgreiflichere Wirkung
des mit erschütterndem Schmerze vorgetragenen Bajozzo¬
liedes, während sich die Sensitiveren im ganzen Verlaufe
des Stückes an dem pointenreichen, geschmackvoll=naturali¬
stischen Spiele des großen Künstlers und seiner im kleinsten
verblüffenden Technik des Gesanges, die das Schwerste
selbstverständlich erscheinen läßt, für die quantitative
Musikarmut der Rolle entschädigen konnten. Buchmachep“!
und Agioteure sind bei Wettrennen und Caruso die Ver¬
gnügtesten. Käme Caruso öfter nach Wien, gäbe es für biele
sonst anständige Leute einen neuen Beruf.