II, Theaterstücke 23, Der Schleier der Pierrette, Seite 221

box 28/1
23. Der Schleiender Pierrette
Ge0

843
„Der Schleier der Pierrette.“
Wenn Arthur Schnitzler eine Pantomime dichtet und Ernst
v. Dohnänyi die Maschreibt, so mag die Wiener Hof¬
oper die moralische Verpflichtung fühlen, das Werk aufzuführen.
Lange genug harren das Ballett und die mimische Kunst neuer,
moderner Aufgaben. Laut und eindringlich ertönt von allen Seiten
der Ruf: Führt die heimischen Dichter auf! Gebt den lebenden
Musikern ihr Recht! Nehmt tätigen Anteil an der Gegenwart!
Fördert dadurch die Zukunft! Trotzdem hat Weingartner, dem
wir so oft Unrecht geben mußten, wirklich Recht gehabt, als er
den „Schleier der Pierrette“ verneinend zurückwies. Gregor glaubte,
ihn beschämen zu müssen und siehe: Das Werk hat vollständig
versagt; keine einzige der erwarteten Sensationen ist in Erfüllung
gegangen.
Schon der Titel ist ein Aufsitzer. Pierrette besucht nach ihrer
Hochzeit im Brautschleier ihren Freund Pierrot, um mit ihm
Gift zu nehmen. Dürfen sie sich im Leben nicht angehören,

wollen sie im Tode vereint sein. Pierrette selbst besteht auf diesem
tragischen Entschlusse, während Pierrot lieber mit ihr entfliehen
möchte. Aber zuletzt nimmt doch nur er das Gift; ihr entsinkt
der Mut. Tot liegt er zu ihren Füßen und sie — die Leichtfertige
lebt und kann ihm nicht mehr folgen, da er sterbend und hohn¬
lachend ihr Glas zersplittert hat. Entsetzt eilt sie zurück zum Hoch¬
zeitsfeste; der Schleier, der ihr vom Haupte geglitten, bleibt im
Zimmer Pierrots. Ihr Bräutigam Arlechino, dessen Eifersucht
schon durch ihre Abwesenheit bis zur Wut gereizt wurde, entdeckt
natürlich auch das Fehlen des Schleiers. Damit ist aber dessen
Rolle ausgespielt; er hat für die Handlung, in der er auf das
leichteste entbehrt werden könnte, gar keine Bedeutung mehr und
auch als Symbol kommt er nicht zur Geltung. Nicht einem in
dem unschuldigen Schleier verborgenen Zauber, sondern der Macht
des Toten ist Pierrette verfallen. Dieser erscheint ihr mitten unter
den Hochzeitsgästen (allerdings „mit dem Schleier in der Hand“),
ihm folgt sie willenlos bis in seine Wohnung, dort findet Arlechino
die Leiche. Nun weiß er sich
auch ohne Schleier — den
richtigen Reim zu machen. Seine Rache ist grausam: er setzt den
Toten aufrecht an den Tisch und sperrt die Braut mit ihm ein.
Pierrette wird wahnsinnig. Dabei fängt sie, nach den Gesetzen
des Bühnenwahnsinns und der Pantomime, zu tanzen an. Hin¬
gegen widerspricht es diesen Gesetzen, daß Pierrot unbeweglich
sitzen bleibt. Ob wir nun selbst geneigt sind, an seine gespenster¬
hafte Wiederbelebung zu glauben, oder ob wir das Ganze nur als
eine Vision des zerrütteten Hirnes der armen Pierrette auffassen
wollen — wie die Erscheinung Pierrots im Festsaale —, in jedem
Falle wäre es das Natürlichste von der Welt, daß er sich jetzt
erhebt und Pierrette zum Tanzen auffordert, um tanzend mit ihr
4