II, Theaterstücke 23, Der Schleier der Pierrette, Seite 252

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23. Der Schleier der Pierrette
schnitt aus: Berliner Morgenpost, Ber
4- AFRlL 1913
„Der Schleier der Pierreite“
Die nächste Rovität des Deutschen
Opernhauses zu Charlotten¬
burg bringt Ernst von Dohnanyis
jüngste Bühnenwerke, die einaktige komische
Oper „Tante Simona“ und die drei¬
altige, von Artur Schnitzler ver¬
faßte Pantomime „Der#der
Pierrette“. Die Premiere, zu der auch
Artur Schnitzler sein Kommen in Aussicht
Ausschnitt aus eriache Caitung Berhin
gestellt hat, findet nächsten Mittwoch statt.
Wir geben im folgenden die Handlung der
Schnitzlerschen Pantomime im Auszug
voin: at nre 7315
wieder:
Erster Akt.
„Der Schleier der Pierrette.“ Man schreibt uns: Die
(Bei Pierrot.) Trüb und einsam sitzt Pierrot
merkwürdige Pantomime, die UrthurScniglergeriene und
Ernst v. Dohnsuni komponiert hat, gelangt, wie bekannt, heute
in seinem Stübchen vor Pierrettens Bild an
abend im Deutschen Opernhause in Charlottenburg zur ersten
seinem Schreibtisch und weint der verlorenen
Aufführung. Die maßgebende Kritik wird nicht verfehlen, das
Geliebten nach, die heute mit Arlechino im Hause
Werk und mit ihm eine ganze Kunstform zu werten. Hier soll nur
ihrer Eltern Hochzeit feiert. Die Dämmerung
versucht werden, das Publikum in einigen Worten auf das Be¬
gleitet durch den Raum und Pierrot sinkt, vom
sondere, Neuartige dieses Dramas, das nur in Bildern und Tönen
Schlummer übermannt, auf sein Lager. Plötzlich
zu den Seelen spricht, vorzubereiten. Die Pantomime, von
von einem Tonkünstler beseelt,
springt die Tür auf und der Diener geleitet das
einem Poeten erdacht,
Fritz
Kunst jenes Ziel, das
weist der dramatischen
Freundespaar Fred und Florestan mit ihren Ge¬
Befreiung
Mauthner der Erkenntnis gesteckt hat: die
liebten herein, die gekommen sind, um Pierrot zu
vom Wort. Das heißt: es scheint für den Dramatiker die Mög¬
Schmaus und Tanz im Grünen abzuholen. Doch
lichkeit gegeben, tiefe feelische Sensationen durchzuleben und dem
alle Erheiterungsversuche gleiten an Pierrots
Zuschauer zu vermitteln, ohne daß er des Wortes als Maklers
düsterer Laune ab. Er ist wieder ganz allein,
bedarf. (Ein verwandtes Streben hat ja zum Kinematheater ge¬
wirft alle Erinnerungen an Pierrette beiseite und
führt, das aber seiner Natur nach doch nur den Trieb zum Schauen
will eben davonstürmen, als er plötzlich auf der
befriedigen kann.)
Das pantomimisch=musikalische Drama hat, wie ohne weiteres
Gasse Pierrette sich nähern sieht. Ueberselig stürzt
einleuchtet, nichts mit dem Musikdrama, noch mit der alten Oper
er hinunter, ihr entgegen. Sie kommt im Braut¬
zu tun, wo durchweg Wort und Ton, wenngleich nach ver¬
schmuck von der Hochzeitstafel und gibt dem ge¬
schiedenen Gesetzen, aufeinander abgestimmt sind. Aber
liebten Pierrot ihren Entschluß kund, mit ihm
auch den Darbietungen der Tanzkunst, den Versuchen
vereint aus dem Leben zu scheiden; zögernd wil¬
ligt Pierrot ein, doch als nach einer in seligem
der Choreographie ist es
nur von fern verwandt.
Liebestaumel verbrachten Stunde Pierrot die
In Schnitzler=Dohnányis Pantomime handelt es sich um die rhyth¬
Gläser mit dem todbringenden Trank füllte und
mische Einheit von Geste und Ton, um die Harmonie zwischen der
unmittelbaren Gebärde der Seele und der Transskription dieser
das seinige leert, ist es nun Pierrette, die vor
Gebärde ins Musikalische. Ohne der Berliner Kritik irgend vor¬
dem Ende zurückschauert. Mit verächtlichem
greifen zu wollen, darf doch gesagt werden, daß das wortlose Drama,
Lachen schleudert Pierrot ihr das Glas aus der
das ja bereits über viele Bühnen gegangen ist, gerade nach der
Hand und stürzt tot bei ihrem Bilde nieder.
feelischen Seite starke Eindrücke hinterließ und daß die Vereinigung
Pierrette versucht vergeblich, ihn ins Leben zu¬
von Gestus und Ton manchen Zuschauer fast an die Entbehrlichkeit
des Maklers Wort glauben machte.
rückzurufen; endlich stürzt sie verzweifelt davon,
ihren Brautschleier im Zimmer Pierrots zurück¬
Die nur leise anklingenden Motive aus der alten commedia
dell'arte, die einem wienerisch=bürgerlichen Milieu der Biedermeier¬
lassend.
zeit einverleibt sind, der scharfe Gegensatz zwischen der robust¬
Zweiter Akt.
koketten Hochzeitsfröhlichkeit und der gespenstigen Erscheinung des
(Im Hochzeitssaal.) Im Festesjubel hat man
toten Pierrot (dieses Opfers seiner schwachmütigen Geliebten, die
das Verschwinden Pierrettens nicht bemerkt, bis
ihren Brautschleier bei ihm vergaß, als sie mit ihm sterben wollte,
aber nicht konnte), die grausame Rache des betrogenen Arlechino,
endlich Gigolo, der Tanzarrangeur, den mürrisch
Pierrettes Wahnsinn und Tod am Orte ihrer doppelten Untreue,
und verschlossen dastehenden Arlechino bittet, am
das Eindringen der ahnungslos vergnügten Freunde, all diese an
Tanze teilzunehmen. „Ja gern, aber Sie sehen
farbiger Phantastik und starken Kontrasten reichen Bilder
doch, Pierrette ist nicht da“. Man durchforscht
lösen im Zuschauer und Hörer
so
stark die
Stim¬
das ganze Haus, vergeblich. Arlechino ergeht sich
mung des Dämonisch=Phantastischen aus, wie sie frühere
in den fürchterlichsten Drohungen. Da plötzlich
Geschlechter beim Genusse von E. T. A. Hoffmanns Erzählungen
erscheint Pierrette auf der Schwelle, als ob nichts
oder von Callots Zeichnungen empfunden haben mögen. Den
geschehen sei: „Wo warst Du?“ — „In meinem
Höhepunkt dürfte diese Stimmung am Schluß des zweiten Bildes
erreichen, wo der erzwungene Hochzeitstanz des wütenden Bräutigams
Zimmer oben!“ — „Das ist nicht wahr!“ — „Ach,
ins Rasende übergeht und bei wechselndem Lichte der gespenstige
quäl' mich nicht, ich will tanzen!“ Zögernd gibt
Pierrot mit dem vergessenen Schleier erscheint. Bei der Ein¬
sich Arlechino darein und der Tanz beginnt, als
studierung des Werkes sollen die Prinzipien des Dalcroze ma߬
plötzlich Arlechino das Fehlen des Brautschleiers
gebend gewesen sein. Frau Elsa Galafrés=Hubermann, die in Wien
entdeckt und Pierrette aus dem Saale weist: „Du
die Rolle der Pierrette kreiert hat, wurde, wie bekannt, auch für die
Berliner Darstellung gewonnen. —st.
wirst jetzt mit mir vereint den verlorenen
Schleier wieder herbeischaffen.“
Dritter Akt.
Im Morgengrauen erreichen sie Pierrots Zim¬
mer. Pierrette stürzt auf den im Zimmer liegen¬
den Schleier zu und will fort, doch Arlechino sieht
sich im Raume um und gewahrt endlich den toten
Pierrot am Boden. Er entdeckt den Betrug und
schwört dämonische Rache. Da Pierrette sich mit
dem lebenden Pierrot so gut verstanden, möge sie
auch des Toten Gesellschaft nicht scheuen. Er
schleppt die Leiche zum Sofa, setzt sie vor den ge¬
deckten Tisch und enteilt. Pierrette mit dem
Toten allein gelassen, verfällt dem Wahnsinn und)
(inkt tot zu Pierrots Füßen nieder.