II, Theaterstücke 23, Der Schleier der Pierrette, Seite 255

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23. Der Schleier der pierrette
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einem starken Konsumrückgange voraussichtlich schon
Sinnen läuft sie ihm nach, Arlechino folgt ihr, sieht in
und „Der Schleier
Pierrots Wohnung, was geschehen ist und übt nun seine
Rache aus: er füllt die Gläser, nötigt Pierrette zum
Pierrette“. 7ag.)0
Trinken und will sie im Angesicht des Toten zu Zärtlich¬
keiten zwingen. Entsetzt stößt sie ihn von sich. Da geht
im Deutschen Opernhaus.
er davon und schließt sie ein, und nun kommt der Wahn¬
eeinaktige Oper, „Der Schleier
sinn über sie: sie tanzt, wilder und immer wilder, bis sie
e Pantomime in drei Bildern,
zu Pierrots Füßen selbst tot zusammenbricht.
ohnányi komponiert. Die Pan¬
Die Musik Dohnanyis ist ein wahres Prachtstück, mit
das sehr viel wertvollere Stück;
blühender Phantasie erfunden und meisterhaft in jedem
er die Oper hinaus, daß man
Zuge gestaltet. Vorwiegend Gebärde natürlich, wie das
mponisten raten würde, wenn
bei der Musik zu einer Pantomime sich von selbst ver¬
ücklich versicherte.
steht, suggeriert sie den Schauspielern fast jede Be¬
wegung, jeden Ausdruck, jedes Mienenspiel; das feine,
as Gerippe der ziemlich graus¬
durchsichtige Gewebe der Instrumente gibt sozusagen
aut. Pierrette ist von ihrer
den Grundriß, dessen Linien die Darsteller nur zu folgen
beg zu ihrem Geliebten Pierrot
brauchen, um verständlich und überzeugend zum Publi¬
sterben. Sie wollen zusammen
kum zu sprechen. Die reizvollen Einfälle drängen ein¬
Pierrot leert ihn auch, sie aber
ander förmlich, bisweilen zuckt ein Gedanke auf, den
d eilt von dem Toten weg zur
man geradezu genial nennen könnte, wie die hilflos her¬
nt Arlechino vergeblich nach ihr
umirrende Klarinette beim Wahnsinnstanz Pierrettens.
d durch Pierrette beschwichtigt,
Und dann kommen Melodien hinzu, die vom feinsten
; Pierrettens Angst und Ver¬
Geschmack eingegeben sind, der bezaubernde Walzer im
fall den Toten sehen: sie will
ersten Bild, mit den Silberfäden der Oboe und Klari¬
et auf sie zu; sie will ein Glas
nette, die Hochzeitstänze im zweiten und anderes mehr.
reicht es ihr; Arlechino vermißt
Für den musikalischen Feinschmecker ist diese Partitur
forscht mißtrauisch noch ihm —
ein Leckerbissen, wie er ihn nicht oft zu kosten kriegt.
nkt mit dem Schleier. Wie von
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die in ihrem Haushalte für niemand oder nur für eine
Die Aufführung war in jedem Betracht ausgezeichnet,
ja, ich glaube sagen zu dürfen, sie war das Vollendetste,
was das Deutsche Opernhaus bis jetzt geboten hat.
Alles stimmte zusammen, die Dekorationen, die Kostüme,
das belebte Spiel der Massen und der einzelnen Dar¬
steller, das die pantomimischen Anregungen der Musik
bis auf den letzten Rest erschöpfte. Ohne den Solisten
zu nahe zu treten, wird man das Hauptverdienst hieran
der Regie des Herrn Dr. Hans Kaufmann zuschreiben
müssen. Durch eine ganz ausgezeichnete Leistung er¬
freute Elsa Galafrès in der Titelrolle; da war keine Be¬
wegung, kein Zucken des Gesichts, die nicht unmittel¬
bare übersetzungen des musikalischen Ausdrucks ge¬
wesen wären; der Übergang in den Wahnsinn, das ver¬
störte, blöde Gesicht, das hysterische Tanzen wirkte ge¬
radezu erschütternd. Sehr gut hielten sich auch die
Herren Linden (Pierrot) Heyer (Arlechino) und Plaut
(Gigolo), und der Komponist, der selbst den Taktstock
führte, bewies, daß er das Orchester ebensogut be¬
herrschen kann wie das Klavier.
Von der „Tante Simona“ spreche ich nicht gern, denn
sie hat mir ebensosehr mißfallen, wie mich der „Schleier
der Pierrette“ entzückt hat. Schon das Buch von Viktor
Händel! Eine Harmlosigkeit, die uns in die Zeit der
Steigentesch, Raupach und Kotzebue zurückversetzt: eine
früher von ihrem Liebhaber verlassene ältere Dame
möchte ihre Nichte vor ähnlicher Enttäuschung bewahren