II, Theaterstücke 23, Der Schleier der Pierrette, Seite 267


ertennt ihr Verhaltnis zu dem Toten. Er schließt sie bei
diesem ein. In ihrer Angst fängt sie zu tanzen an und hört,
vom Wahnsinn ergriffen, nicht eher auf, als bis sie neben
Pierrot tot niederröllt. Die lustig hereintanzenden Freunde
Pierrots finden zu ihrem Entsetzen die Leichen.
Dieses gruselige Drama soll den Zuschauern nur durch das
Mienenspiel der Darsteller klargemacht werden. Diese dem
Ballet naheverwandte Kunstgattung des Mimodramas war bis¬
her nur durch Henri Berenyis „Die Hand" und André
Wurmsers „Der verlorene Sohn“ weiteren Kreisen bekannt ge¬
worden. Beide Tonsetzer hatten in wirksamster Weise die
Darsteller durch ihre Musik unterstützt. Auch Herrn
von Dohnanyi ist dies in hohem Grade gelungen.
ja
Seine Musik ist in hohem Grade dramatisch,
ungemein packend, sie paßt sich jeder vom Dichter ge¬
wünschten Stimmung und Situation vortrefflich an, enthält
also auch sehr wirksame Gegensätze und ist prachtvoll instru¬
mentiert. Auch die Leitmotive, die gelegentlich etwas wagnerisch
anmuten, während das Werk sonst im allgemeinen durchaus
eine eigenartige, persönliche Note aufweist, sind brillant ver¬
arbeitet. Vor allem seien das Liebesschmerzmotiv Pierrots
und das auf seine Liebe zu Pierrette hindeutende Motiv wegen
ihrer Plastik hervorgehoben. Ein hübscher Gedanke war es,
bei der Stelle, wo das Gift genommen wird, die
entsprechende aus „Tristan und Isolde“ zu zitieren. Den
Höhepunkt der Musik bedeuten das Erscheinen des
toten Pierrots während eines gespenstischen Galopps und der
etwas an Saint=Saëns' Totentanz erinnernde Schlußtanz der
Pierrette. Ganz reizend ist der altwienerische Ländlerwalzer der
Freunde und Freundinnen Pierrots, die ihn im ersten Bild
trösten wollen; durch Flottheit und Schneid ist der Walzer beim
Hochzeitsfest ausgezeichnet; sehr hübsch ist auch die Quadrille,
reizend das Menuett; vor allem aber interessieren die hoch¬
tragischen Momente in der Musik. Diese scheinen mir
Dohnanyis Stärke ganz besonders zu sein. Hoffentlich findet
er bald ein wirklich gutes Textbuch zu einer tragischen Oper,
die dann hervorragend ausfallen dürfte.
Daß ihm der Lustspielton bei weitem nicht so gut liegt,
das hat er — leider — in der „Tante Simona“ bewiesen.
Mir ist es direkt unbegreiflich, wie er sich zur Vertonung dieses
unglaublich harmlosen, jeder Eigenart entbehrenden Librettos
des Wiener Advokaten Victor Heindl hatte entschließen können.
Es verlohnt kaum zu erzählen, wie diese Dame, die in ihrer
Jugend von ihrem Liebhaber verlassen und darum eine Männer¬
feindin geworden ist, doch nicht verhindern kann, daß ein Ver¬
ehrer ihrer Nichte dieser sich in der Verkleidung eines taub¬
stummen Gärtners doch nähert, und wie sie selbst ihrem
daß
alten Verehrer liebegirrend in den Arm fällt, so
wir am Schluß zwei glückliche Paare dann sehen. Es
war sehr gut, daß auf dieses Operchen das Mimodrama
folgte; es wurde zwar recht freundlich aufgenommen, allein es
ist auch in der Musik durchaus belanglos; selbst die mancherlei
eingestreuten Liedchen würden nie vermuten lassen, daß sie von
Dohnanyi herrühren. Nur die Liebesszene zwischen der Donna
Simona und ihrem alten Verehrer nimmt einen höheren Auf¬
schwung; auch ist die Ouvertüre recht flott. Uebrigens ist das
Werkchen auch viel zu dick instrumentiert. Ich halte es leider
für ausgeschlossen, daß es sich auf dem Spielplan halten kann,
worüber beim „Schleier der Pierrette“ kein Zweifel bei mir
besteht, und möchte Herrn Direktor Hartmann vorschlagen,
zu diesem Mimodrama Puccinis einaktige Oper „Die Willys“.
zu geben, die auch stofflich gut dazu paßt.
Während in der „Tante Simona“ der vortreffliche Kapell¬
meister Rudolf Krasselt den Taktstock führte, dirigierte der
Komponist das Mimodrama mit bestem Erfolge selbst. Trefflich
Saene grjeßzt waren beide Werke von Dr. Hans Kauf¬
mann, den in der Pantomime die Ballettmeisterin Mary
Zimmermann wirkungsvoll unterstützt hatte. Sehr ge¬
schmackvoll waren wieder die von dem Maler Gustav
Wunderwald, einem wirklichen Wundermanne, herrührenden
Kostüme und Dekorationen. Das Operchen wurde übrigens
weniger gut gegeben als die Pantomime. Als Tante Simona
erfreute die treffliche Altistin Louise Marck auch durch Deutlich¬
keit der Aussprache, gegen die ihre Nichte Eleanor Paintner
leider sehr sündigte. Gar nicht konnte ich mich mit deren Liebhaber¬
tenor befreunden, während mir die schöne Stimme und ganze
Art des Bassisten Ernst Lehmann gefiel. Flott wie immer,
auch im Gesang, war Mizzi Fink als Zofe. In der Neben¬
rolle eines Hausverwalters tat sich Eduard Kandl hervor.
Für die Pierrette war die ausgezeichnete erste Wiener
Darstellerin in dieser Rolle Elsa Galafrés=Hubermann
gewonnen worden. Ejnar Linden (Pierrot) und Edwin
Heyer (Harlekin), sowie Eduard Kandl und Elli Sander
(Eltern der Pierrette) waren durchaus am Platze. Als Fest¬
ordner bei der Hochzeit zeigte sich Josef Plaut wieder als
Chargenspieler ersten Ranges.
Auf das völlig besetzte Haus machte „Der Schleier der
Pierrette“ einen tiefen Eindruck, der sich am Schluß in sehr
starkem Beifall auslöste.
anin Abferliner Norgenpöst, Berli
10 ArHIL
17
920
Theater, Kunftund

Dissenschaft
Dohnänyi und Schnitzler
im Deutschen Opernhause.
„Tante Simona“ und „Der Schleier der
Dierreite“. Gestern erste Aufführung.
Mit zwei musikalischen Bühnenwerken ist
gestern Ernst von Dohnänyi, der bekannte
vortreffliche Pianist, im Deutschen Opernhause
zu Worte gekommen. Als Autor schöner und
gediegener Kammermusik hat der Künstler in
der Musikwelt längst schon einen guten Namen, —
nach dem Ergebnis der gestrigen Darstellung“
seiner für das Theater verfaßten Musik aber muß
man leider feststellen, daß er für diese Art des
musikalischen Schaffens keine ausreichende Be¬
gabung besitzt.
Das einaktige Singspiel „Tante Si¬
mona“ ist in jeder Hinsicht herzlich unerheblich,
so unbedeutend, daß nicht einmal der Name
des Autors seine Aufführung rechtfertigt. Das
Buch von Viktor Heindel ist für unsere Zeit
schlimmer noch als kindlich=naiv. Die Tante, die
die ihre Nichte vor der Macht der Liebe
in
sie selbst
weil
bewachen will,
jüngeren Jahren einmal mit solchen Dingen
schlecht abgeschnitten hat, ist eine ebenso abge¬
spielte Theaterfigur, wie die endliche Lösung
der Geschichte zu dem ältesten Hausrat der
Bühne gehört: Tante und Nichte erliegen selbst¬
verständlich dem Zauber der gefürchteten Ge¬
walt. Dazu hat Dohnänyi eine Musik geschrie¬
ben, die auch nicht die Spur lebendigen, bühnen¬
dramatischen Flusses enthält. Trockene Musik
ohne Erfindung — ein mittelmäßiges Klavier¬
konzert, wenn man will, aber keine Tonsprache
zu einer Bühnenhandlung. In der Darstellung
war nur Mizzi Fink am Platze. Alle anderen
Mitwirkenden boten ungemein schwache Leistun¬
gen, bei denen nur die krasseste Unbeholfenheit
in Spiel und Gesang bemerkenswert erschien.
Besser ist die Pantomime „Der Schleier
der Pierette“ von Arthur Schnitzler—
deren Inhalt wir vor einigen Tagen an dieser
Stelle wiedergegeben haben. Das Stück wirkt
besonders durch seine künstlich hervorgerufenen
Gegensätze, und das tragische Ende Pierrettes,
die am Hochzeitstage dem Festestreiben entfloh,
um ihren geliebten Pierrot noch einmal zu sehen,
übt in der geschickten Disponierung und Durch¬
führung der Vorgänge immerhin Eindruck aus.
Freilich ist dies bißchen Handlung mitunter zu
sehr in die Breite gezogen. Aber eine flotte
Ballszene und die Geistererscheinung des toten
Pierrots unterstützen den phantastischen Verlauf
der Geschichte recht gut. Dohnänyis Musik zu
dieser Pantomime hat im ganzen und großen
Form und Geschlossenheit, rafft sich mitunter
auch zu scharfer Charakterisierung zusammen und
paßt im allgemeinen zu dem Vorwurf. Aber
auch hier zeigt sich ein betrüblicher Mangel an
Erfindung und innerer Kraft: die Partitur wirkt
aber vornehmlich nur durch äußere Mittel, durch
sinngemäße Instrumentierung und raffinierte
Tonmalerei.
Frau Galafrés hat in der Rolle der
eindringliches
Pierxette ansehnliche Kunst,
Minenspiel und klare Veranschaulichung der
Handlung durch maßvolle Geste betätigt, und
auch Edwin Heyer sowie Einar Linden
lösten ihre Aufgaben trefflich. Das Publikum
nahm die beiden Novitäten sehr freundlich auf.
J. C. Lusztig.