23. Der Schlider Pierete
Ausschnitt aus;
Kunstwart, München
Aweds tachaf
4442.
vom:
1
„Der Schleier der Pier¬
rette“ von Artur Schnitzler
Berliner Theater
dor dreizehn Jahren erschien
BSchnitzlers fünfaktige Re¬
naissancetragödie „Der Schleier der
Beatrice“ sein erstes hohes Vers¬
drama, in dem ein Teil der Kritik
einen Grillparzer und Hebbel eben¬
bürtigen Tiefsinn entdecken wollte
von der Überlegenheit der poeti¬
schen Form ganz zu geschweigen.
Jetzt, da man schon Mühe hat,
sich an die vielverschlungene Hand¬
lung jenes Dramas und seinen —
die einen sagten buntschillernden,
die andern tiefdeutigen Lebenssinn
zu erinnern, hat der Dichter selbst
eine eigentümliche Kritik daran
vollzogen. Er hat eine Pantomime
in drei Bildern daraus gemacht und
Ernst von Dohnänyi, der in
Berlin als Konzertgeber und Lehrer
der Hochschule einen guten Ruf ge¬
nießt, hat für das Deutsche Opern¬
haus in Charlottenburg eine höchst
ausdrucksvolle Musik dazu geschrie¬
ben, der Kenner — ich selbst habe
zu wenig musikkritisches Urteil, um
ihr mit mehr als „Gefühlen“ nahen
zu können — blühende Phantasie,
reizvolle Einfälle, ja sogar „geniale
Gedanken“ nachsagen.
Was mich hier allein beschäftigen
kann, ist die merkwürdige Verände¬
rung, die Schnitzlers ursprüngliches
Werk erfahren hat. Damals eine
Dichtung, ganz durchtränkt mit Re¬
naissanceluft, behängt mit verwir¬
renden Einzelschönheiten der Phan¬
tasie und der Wortkunst, über¬
sättigt mit schmerzlich=sentimentaler
Symbolik vom ewig trügerischen,
stets zerflatternden Spiel dieses
Daseins, eine strotzende dramatische
Erfindung, in der Narren und
Bettler sich mit großen Künstlern
und glänzenden Herzögen begegne¬
ten — jetzt eine simple bürgerliche
25
box 28/1
Geschichte, der die alten Figuren¬
bezeichnungen der commedia dell'
cte wie Pierrot, Pierrette und
Arlechino die Atmosphäre einer
fatalen Mobernität nicht nehmen
können, handfest und gruselig, mit
Motiven und Mitteln, die bedenk¬
lich zu der Technik des Kinos
hinüberschielen. Pierrot und Pier¬
rette haben miteinander gebrochen.
Pierrette nimmt Abschied von dem
Geliebten und überläßt ihn seiner
trostlosen Einsamkeit, um im Nach¬
barhause ihre Hochzeit mit Arlechino
zu feiern. Aber während des
Festes, noch im Brautschleier, kehrt
sie sehnsüchtig zu dem immer noch
Geliebten zurück, um — wie Bea¬
trice Nardi bei ihrem Maler
Filippo Loschi — gemeinsam mit
ihm zu sterben. Er trinkt den Gift¬
becher, sie läßt ihn im letzten
Augenblick fallen — ihr Lebens¬
drang ist stärker als ihre Liebe unt¬
Tobessehnsucht. So stürzt sie sich,
fiebernd vor Lebensgier, gepeitscht
von Angst, wieder unter die Gäste
und sucht durch wilde Ausgelassen¬
heit im Tanz den argwöhnisch ver¬
stimmten Ehemann zu zerstreuen,
sich selbst zu betäuben. Vergebens.
Überall, wohin sie blickt, erscheint
ihr in fahler Beleuchtung das
bleiche Gespenst des einsam gestor¬
benen Geliebten. Sie will aus¬
ruhen vom wirbelnden Tanze —
Pierrot scheucht sie aus dem Sessel
auf; sie will ein Glas Wein trin¬
ken, ihre Glut zu kühlen — Pierrot
steht hinter dem Büfett und wehrt
es ihr; ihr Schleier wird vermißt
Pierrot hält ihn in der Hand
und winkt ihr damit. Und all ihr
Grauen hilft ihr nicht: sie muß
ihm nach, Hand in Hand mit Arle¬
chino den Schleier zu suchen. Da
kommt denn auch all ihre Ruch¬
losigkeit an den Tag, und der be¬
trogene Gatte nimmt furchtbare
Nache, indem er sie zwingt, mit
Nunswart AXVI. 6
dem Toten anzustoßen, zärtlich zu
ihm zu sein, und indem er sie
endlich mit ihm einschließt. Da
überfällt sie wahnsinniges Ent¬
setzen, und sie weiß ihre Angst
nicht anders zu betäuben, als in¬
dem sie tanzt, tanzt, tanzt, immer
wilder, immer rasender, bis sie
selber tot niedersinkt, zu den Füßen
des entseelten Pierrot, das Antlitz
mit dem Schleier bedeckt ...
Obgleich Schnitzler offenbar das
Bedürfnis gefühlt hat, iese Er¬
Ausschnitt aus;
Kunstwart, München
Aweds tachaf
4442.
vom:
1
„Der Schleier der Pier¬
rette“ von Artur Schnitzler
Berliner Theater
dor dreizehn Jahren erschien
BSchnitzlers fünfaktige Re¬
naissancetragödie „Der Schleier der
Beatrice“ sein erstes hohes Vers¬
drama, in dem ein Teil der Kritik
einen Grillparzer und Hebbel eben¬
bürtigen Tiefsinn entdecken wollte
von der Überlegenheit der poeti¬
schen Form ganz zu geschweigen.
Jetzt, da man schon Mühe hat,
sich an die vielverschlungene Hand¬
lung jenes Dramas und seinen —
die einen sagten buntschillernden,
die andern tiefdeutigen Lebenssinn
zu erinnern, hat der Dichter selbst
eine eigentümliche Kritik daran
vollzogen. Er hat eine Pantomime
in drei Bildern daraus gemacht und
Ernst von Dohnänyi, der in
Berlin als Konzertgeber und Lehrer
der Hochschule einen guten Ruf ge¬
nießt, hat für das Deutsche Opern¬
haus in Charlottenburg eine höchst
ausdrucksvolle Musik dazu geschrie¬
ben, der Kenner — ich selbst habe
zu wenig musikkritisches Urteil, um
ihr mit mehr als „Gefühlen“ nahen
zu können — blühende Phantasie,
reizvolle Einfälle, ja sogar „geniale
Gedanken“ nachsagen.
Was mich hier allein beschäftigen
kann, ist die merkwürdige Verände¬
rung, die Schnitzlers ursprüngliches
Werk erfahren hat. Damals eine
Dichtung, ganz durchtränkt mit Re¬
naissanceluft, behängt mit verwir¬
renden Einzelschönheiten der Phan¬
tasie und der Wortkunst, über¬
sättigt mit schmerzlich=sentimentaler
Symbolik vom ewig trügerischen,
stets zerflatternden Spiel dieses
Daseins, eine strotzende dramatische
Erfindung, in der Narren und
Bettler sich mit großen Künstlern
und glänzenden Herzögen begegne¬
ten — jetzt eine simple bürgerliche
25
box 28/1
Geschichte, der die alten Figuren¬
bezeichnungen der commedia dell'
cte wie Pierrot, Pierrette und
Arlechino die Atmosphäre einer
fatalen Mobernität nicht nehmen
können, handfest und gruselig, mit
Motiven und Mitteln, die bedenk¬
lich zu der Technik des Kinos
hinüberschielen. Pierrot und Pier¬
rette haben miteinander gebrochen.
Pierrette nimmt Abschied von dem
Geliebten und überläßt ihn seiner
trostlosen Einsamkeit, um im Nach¬
barhause ihre Hochzeit mit Arlechino
zu feiern. Aber während des
Festes, noch im Brautschleier, kehrt
sie sehnsüchtig zu dem immer noch
Geliebten zurück, um — wie Bea¬
trice Nardi bei ihrem Maler
Filippo Loschi — gemeinsam mit
ihm zu sterben. Er trinkt den Gift¬
becher, sie läßt ihn im letzten
Augenblick fallen — ihr Lebens¬
drang ist stärker als ihre Liebe unt¬
Tobessehnsucht. So stürzt sie sich,
fiebernd vor Lebensgier, gepeitscht
von Angst, wieder unter die Gäste
und sucht durch wilde Ausgelassen¬
heit im Tanz den argwöhnisch ver¬
stimmten Ehemann zu zerstreuen,
sich selbst zu betäuben. Vergebens.
Überall, wohin sie blickt, erscheint
ihr in fahler Beleuchtung das
bleiche Gespenst des einsam gestor¬
benen Geliebten. Sie will aus¬
ruhen vom wirbelnden Tanze —
Pierrot scheucht sie aus dem Sessel
auf; sie will ein Glas Wein trin¬
ken, ihre Glut zu kühlen — Pierrot
steht hinter dem Büfett und wehrt
es ihr; ihr Schleier wird vermißt
Pierrot hält ihn in der Hand
und winkt ihr damit. Und all ihr
Grauen hilft ihr nicht: sie muß
ihm nach, Hand in Hand mit Arle¬
chino den Schleier zu suchen. Da
kommt denn auch all ihre Ruch¬
losigkeit an den Tag, und der be¬
trogene Gatte nimmt furchtbare
Nache, indem er sie zwingt, mit
Nunswart AXVI. 6
dem Toten anzustoßen, zärtlich zu
ihm zu sein, und indem er sie
endlich mit ihm einschließt. Da
überfällt sie wahnsinniges Ent¬
setzen, und sie weiß ihre Angst
nicht anders zu betäuben, als in¬
dem sie tanzt, tanzt, tanzt, immer
wilder, immer rasender, bis sie
selber tot niedersinkt, zu den Füßen
des entseelten Pierrot, das Antlitz
mit dem Schleier bedeckt ...
Obgleich Schnitzler offenbar das
Bedürfnis gefühlt hat, iese Er¬