II, Theaterstücke 23, Der Schleier der Pierrette, Seite 294

haus in Charkottenburg eine hochst
ausdrucksvolle Musik dazu geschrie¬
ben, der Kenner — ich selbst habe
zu wenig musikkritisches Urteil, um
ihr mit mehr als „Gefühlen“ nahen
zu können — blühende Phantasie,
reizvolle Einfälle, ja sogar „geniale
Gedanken“ nachsagen.
Was mich hier allein beschäftigen
kann, ist die merkwürdige Verände¬
rung, die Schnitzlers ursprüngliches
Werk erfahren hat. Damals eine
Dichtung, ganz durchtränkt mit Re¬
naissanceluft, behängt mit verwir¬
renden Einzelschönheiten der Phan¬
tasie und der Wortkunst, über¬
sättigt mit schmerzlich=sentimentaler
Symbolik vom ewig trügerischen,
stets zerflatternden Spiel dieses
Daseins, eine strotzende dramatische
Erfindung, in der Narren und
Bettler sich mit großen Künstlern
und glänzenden Herzögen begegne¬
ten — jetzt eine simple bürgerliche
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von Amagt, mieder unte A W
und sucht durch wilde Ausgelassen¬
heit im Tanz den argwöhnisch ver¬
stimmten Ehemann zu zerstreuen,
sich selbst zu betäuben. Vergebens.
Aberall, wohin sie blickt, erscheint
ihr in fahler Beleuchtung das
bleiche Gespenst des einsam gestor¬
benen Geliebten. Sie will aus¬
ruhen vom wirbelnden Tanze —
Pierrot scheucht sie aus dem Sessel
auf; sie will ein Glas Wein trin¬
ken, ihre Glut zu kühlen — Pierrot
steht hinter dem Büfett und wehrt
es ihr; ihr Schleier wird vermißt
Pierrot hält ihn in der Hand
und winkt ihr damit. Und all ihr
Grauen hilft ihr nicht: sie muß
ihm nach, Hand in Hand mit Arle¬
chino den Schleier zu suchen. Da
kommt denn auch all ihre Ruch¬
losigkeit an den Tag, und der be¬
trogene Gatte nimmt furchtbare
Nache, indem er sie zwingt, mit
Kunstwart XXVI, (6
dem Toten anzustoßen, zärtlich
ihm zu sein, und indem er sie
Da
endlich mit ihm einschließt.
überfällt sie wahnsinniges Ent¬
setzen, und sie weiß ihre Angst
nicht anders zu betäuben, als in¬
dem sie tanzt, tanzt, tanzt, immer
wilder, immer rasender, bis sie
selber tot niedersinkt, zu den Füßen
des entseelten Pierrot, das Antlitz
mit dem Schleier bedeckt ...
Obgleich Schnitzler offenbar das
Bedürfnis gefühlt hat, diese Er¬
eignisse durch eine Art romanti¬
scher Distanz von uns zu ent¬
fernen, empfindet man das Ganze
als handgreiflich roh und grob¬
drähtig. Es sind Zugeständnisse
an einen Geschmack barin, mit dem
die Renaissancetragöbie von 1900
scheinbar nicht ein Härchen gemein¬
sam haben mochte. Mit dem Ver¬
zicht auf das Wort fällt aller Glanz
und Schimmer, alle Feinheit und
aller Tiefsinn von der Konzeption
ab. Es sollte scheinbar ihre Seele,
ihre Idee aus dem glitzernden Be¬
hang gelöst werden, indem das
wesentlichste daraus, spielerische
Lebensgier, die sich dem Tode in
die Arme tanzt, auf die äußerste
Einfachheit gebracht wurde —
aber erweist sich, daß das Ganze
nicht mehr war als eine Spielerei,
die durch das Spalier des Wortes
und Verses nur gerade notdürftig
aufrechterhalten wurde. Oder mor¬
det die Notwendigkeit des Panto¬
mimenstils so sicher und unweiger¬
lich alle feineren Wendungen, alle
tieferen Beziehungen? Dann wehe
uns in dem Augenblick, wo unsre
Dichter=Dramatiker sich verlocken
lassen, ihre Stücke von vorne¬
herein für den Kino zu verfassen
oder gleichzeitig mit der Bühnen¬
ausgabe eine Lichtspielfassung zu
Friedrich Düsel
geben!
2. Maiheft 19s5