23. Der Schleiender-Bierrette
vor etwa vier Jahren bereits herausgekommene Pantomime „Der
Schleier der Pierrette“ im Opernhause aufzuführen. So
sprang, wie schon mehrmals, wieder das Deutsche Opernhaus ein,
um gut zu machen, was an anderer Stelle versäumt worden ist.
Der Pantomime ging die einaktige Spieloper „Tante Simona
voran, die erst im Laufe des jetzt zu Ende gehenden Winters in
Dresden ihre Uraufführung erlebte. Dieses naive Biedermeier¬
stückchen weist nichts für die Bühne und die Zuhörer Neues auf.
Aber es ist nett, einfach=heiter, mit etwas Gartenlaubensentimen¬
talität gemacht. Die Verwicklung ist bescheiden und bringt mit der
Lösung auch nicht gerade zwerchfellerschütternde überraschungen.
Mit Ausnahme einiger weniger Längen geht alles flott hinterein¬
ander, besonders in der Musik, die manchmal bis zum wirklichen
Allegrohumor durchbricht. Ein großer musikalischer Erfinder ist
ja Dohnanyi nie gewesen. Seine Vorbilder, besonders Brahms,
kommen manchmal in den Vordergrund. Die technische Arbeit ist
von erfreulicher Sauberkeit, und die Instrumentation überdeckt
geschickt die Untiefen der Konzeption. Mit der Pantomime begibt
sich Dohnanyi auf einen unvergleichlich viel ernsteren künstlerischen
und menschlichen Boden. Arthur Schnitzler hat aus seinem
„Schleier der Beatrice" für Dohnanyi eine Pierrotgeschichte gemacht,
die während des ersten Bildes durch ihre natürliche Menschlichkeit
zugleich spannt und befriedigt, im zweiten durch die gruselige
Geistererscheinung des im ersten Bilde durch eigene Gand getöteten
Pierrot zum tieferen Niveau herabsteigt, um sich im dritten Bilde
gänzlich in rohe, abstoß inde Sensationsmache zu verlieren. Man
versteht nicht, wie zwei Leute von so hoher Künstlerbildung wie
Schnitzler und Dohnanyi auf einen derartigen Weg geraten konnten.
Geht es denn heute bei unseren Musikdramen, Opern und Panto¬
mimen tatsächlich nicht mehr ohne den Sensationsfilm? Man sollte
doch ganz das Gegenteil von Künstlern erwarten. Weg von dieser
Richtung! Wie unendlich viel vornehmer, künstlerisch bedeutungs¬
voller wirkten da die Pantomimen Stravinskys, die das Russische
Ballett aufgeführt hat. Und hatten doch auch Erfolg! Das Un¬
künstlerische an dem „Schleier der Beatrice“ ist das Realistische,
das man glauben soll. Wäre die Handlung auf etwas Unwahr¬
scheinliches eingestellt, so würde man sich das eben als „Theater“
gefallen lassen. So aber, wenn der von seiner Braut Pierrette ver¬
ratene Arlechino in deren Gegenwart den toten Pierrot über die
ganze Bühne schleift und ihn dann in einen Lehnstuhl setzt, damit
Pierrette sich bei dem Anblick noch immer mehr entsetzen soll, als
sie es sowieso schon tut — das ist doch etwas, was ein ganz ent¬
menschtes Wesen ausführen könnte, was vielleicht einmal bei einem
Raubmord vorkommen kann, etwas, das als möglich berührt, aber
für das die Bühne wirklich zu schade ist. Da haben wir eine
Sardou=Imitation, und für Sardou hat man in Deutschland noch
immer ablehnend gedankt. Daß ein Schnitzler so ein Stück natür¬
lich sehr viel besser macht als ein xbeliebiger Autor, ist selbstver¬
ständlich. Man kann nicht leugnen, daß alles sehr geschickt und
konzentriert zusammengefügt worden ist. Die Sache ist beim großen
Publikum durchaus wirkungsvoll. Aber das Publikum merkt leider
nicht, daß es durch solche Werke immer weiter von der Empfäng¬
lichkeit für etwas Einfaches, Unsensationelles und menschlich Ver¬
tiefendes abgelenkt wird. Kein Wunder, daß dann Opern wie die
von Busoni, Delius, Pfitzner usw., die ein gutes reines Geschmacks¬
niveau einhalten, so sehr schwer durchdringen. Die Musik
Dohnanyis zu der Pantomime trägt eine große Maske, hinter der
ein sehr durchschnittliches Gesicht steckt. Sie trifft zwar so un¬
gefähr die Situationen und läßt durch die bei der Pantomime üb¬
lichen ärenden Motive und Themen erkennen, was das aus¬
geschaltele Wort ausdrücken sollte. Aber trotz des manchmal mit
fortreißenden Temperaments des Komponisten fühlt man doch weit
mehr Phrasenhaftigkeit als echten, inspirierten Ausdruckszwang,
wie man ihn z. B. aus Dohnanyis Kammermusik heraushört.
Jedenfalls gingen viele mit dem Gefühl nach Hause, daß sie schon
stärkere und erbaulichere Eindrücke vom Theater mit fortgenommen
haben. Die Aufführung war im großen ganzen annehmbar. Elsa
Balafrés in der Titelrolle bewer#e sich, mit Anmut, jedoch nicht
box 28/1
so geschmeidig, wie dies für die Darstellung einer Pierrette, zumal
in einer Pantomime, erforderlich ist. Die übrigen Häuptrollen
führten Einax= Linden und Edwin Heyer durch: Die gute
Regie Dr. Häufmanns fiel allgemein auf. Dolnanyi selbst
saß am Dirigentenpult und wurde am Schluß lebhaft gefeiert.
vor etwa vier Jahren bereits herausgekommene Pantomime „Der
Schleier der Pierrette“ im Opernhause aufzuführen. So
sprang, wie schon mehrmals, wieder das Deutsche Opernhaus ein,
um gut zu machen, was an anderer Stelle versäumt worden ist.
Der Pantomime ging die einaktige Spieloper „Tante Simona
voran, die erst im Laufe des jetzt zu Ende gehenden Winters in
Dresden ihre Uraufführung erlebte. Dieses naive Biedermeier¬
stückchen weist nichts für die Bühne und die Zuhörer Neues auf.
Aber es ist nett, einfach=heiter, mit etwas Gartenlaubensentimen¬
talität gemacht. Die Verwicklung ist bescheiden und bringt mit der
Lösung auch nicht gerade zwerchfellerschütternde überraschungen.
Mit Ausnahme einiger weniger Längen geht alles flott hinterein¬
ander, besonders in der Musik, die manchmal bis zum wirklichen
Allegrohumor durchbricht. Ein großer musikalischer Erfinder ist
ja Dohnanyi nie gewesen. Seine Vorbilder, besonders Brahms,
kommen manchmal in den Vordergrund. Die technische Arbeit ist
von erfreulicher Sauberkeit, und die Instrumentation überdeckt
geschickt die Untiefen der Konzeption. Mit der Pantomime begibt
sich Dohnanyi auf einen unvergleichlich viel ernsteren künstlerischen
und menschlichen Boden. Arthur Schnitzler hat aus seinem
„Schleier der Beatrice" für Dohnanyi eine Pierrotgeschichte gemacht,
die während des ersten Bildes durch ihre natürliche Menschlichkeit
zugleich spannt und befriedigt, im zweiten durch die gruselige
Geistererscheinung des im ersten Bilde durch eigene Gand getöteten
Pierrot zum tieferen Niveau herabsteigt, um sich im dritten Bilde
gänzlich in rohe, abstoß inde Sensationsmache zu verlieren. Man
versteht nicht, wie zwei Leute von so hoher Künstlerbildung wie
Schnitzler und Dohnanyi auf einen derartigen Weg geraten konnten.
Geht es denn heute bei unseren Musikdramen, Opern und Panto¬
mimen tatsächlich nicht mehr ohne den Sensationsfilm? Man sollte
doch ganz das Gegenteil von Künstlern erwarten. Weg von dieser
Richtung! Wie unendlich viel vornehmer, künstlerisch bedeutungs¬
voller wirkten da die Pantomimen Stravinskys, die das Russische
Ballett aufgeführt hat. Und hatten doch auch Erfolg! Das Un¬
künstlerische an dem „Schleier der Beatrice“ ist das Realistische,
das man glauben soll. Wäre die Handlung auf etwas Unwahr¬
scheinliches eingestellt, so würde man sich das eben als „Theater“
gefallen lassen. So aber, wenn der von seiner Braut Pierrette ver¬
ratene Arlechino in deren Gegenwart den toten Pierrot über die
ganze Bühne schleift und ihn dann in einen Lehnstuhl setzt, damit
Pierrette sich bei dem Anblick noch immer mehr entsetzen soll, als
sie es sowieso schon tut — das ist doch etwas, was ein ganz ent¬
menschtes Wesen ausführen könnte, was vielleicht einmal bei einem
Raubmord vorkommen kann, etwas, das als möglich berührt, aber
für das die Bühne wirklich zu schade ist. Da haben wir eine
Sardou=Imitation, und für Sardou hat man in Deutschland noch
immer ablehnend gedankt. Daß ein Schnitzler so ein Stück natür¬
lich sehr viel besser macht als ein xbeliebiger Autor, ist selbstver¬
ständlich. Man kann nicht leugnen, daß alles sehr geschickt und
konzentriert zusammengefügt worden ist. Die Sache ist beim großen
Publikum durchaus wirkungsvoll. Aber das Publikum merkt leider
nicht, daß es durch solche Werke immer weiter von der Empfäng¬
lichkeit für etwas Einfaches, Unsensationelles und menschlich Ver¬
tiefendes abgelenkt wird. Kein Wunder, daß dann Opern wie die
von Busoni, Delius, Pfitzner usw., die ein gutes reines Geschmacks¬
niveau einhalten, so sehr schwer durchdringen. Die Musik
Dohnanyis zu der Pantomime trägt eine große Maske, hinter der
ein sehr durchschnittliches Gesicht steckt. Sie trifft zwar so un¬
gefähr die Situationen und läßt durch die bei der Pantomime üb¬
lichen ärenden Motive und Themen erkennen, was das aus¬
geschaltele Wort ausdrücken sollte. Aber trotz des manchmal mit
fortreißenden Temperaments des Komponisten fühlt man doch weit
mehr Phrasenhaftigkeit als echten, inspirierten Ausdruckszwang,
wie man ihn z. B. aus Dohnanyis Kammermusik heraushört.
Jedenfalls gingen viele mit dem Gefühl nach Hause, daß sie schon
stärkere und erbaulichere Eindrücke vom Theater mit fortgenommen
haben. Die Aufführung war im großen ganzen annehmbar. Elsa
Balafrés in der Titelrolle bewer#e sich, mit Anmut, jedoch nicht
box 28/1
so geschmeidig, wie dies für die Darstellung einer Pierrette, zumal
in einer Pantomime, erforderlich ist. Die übrigen Häuptrollen
führten Einax= Linden und Edwin Heyer durch: Die gute
Regie Dr. Häufmanns fiel allgemein auf. Dolnanyi selbst
saß am Dirigentenpult und wurde am Schluß lebhaft gefeiert.