II, Theaterstücke 23, Der Schleier der Pierrette, Seite 308

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23. Der Schleier der Pierrette
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reslauer Zeitung
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vom:
wa. Schauspielhaus. „Brüderlein fein.“ — „Der
[Schleier der Pigrette.“ Die leichtgeschürzte Muse, die im Schau¬
spielhaus über die Bretter tänzelt, hatte gestern ein ehrbar=bürgerliches und
ernstes Gewand angezogen; und zwar zeigte sie sich in Alt=Wiener Tracht
freilich mit phäntastischem Einschlag. Ein Bild und einen Klang aus
den Tagen Raimunds haben Julius Wilhelm, der Librettist, und
[Leo Fall in ihrem Alt=Wiener Singspiel „Brüderlein fein"*)
aufgefangen und festgehalten, in dem die sogenannte gute alte Zeit in ihrer
anheimelndsten Gestalt, in der altväterlichen Traulichkeit und gemütvollen
Behaglichkeit eines Ehe=Idylls auflebt. Der Kapellmeister Josef Drechsler,
der Komponist des Liedes „Brüderlein fein“, feiert in der Stille seiner
Häuslichkeit mit seiner Gattin Tony den vierzigsten Hochzeitstag. In Liebe
miteinander verbunden, wie am Tage, da sie sich fanden, lenken sie ihre,
Gedanken in gemeinsamem Erinnern zurück mit seligem: „Weißt Du
noch?... Und die Vergangenheit wird für kurze Augenblicke zur Gegen¬
wart. Wie in einem Raimundschen Märchenstück, tritt die holde Gestalt der
Jugend, in die sich die alte Haushälterin urplötzlich gewandelt, in das Heim
und schenkt ihnen mit den Klängen ihrer Zaubergeige und ihres Liedes
eine Stunde der schönen Jugendzeit. Die Stunde vergeht, — sie tragen
wieder die Last der Jahre, aber ohne Klage und ohne Furcht vor dem
Sinken der Lebenssonne, vor dem nahenden ewigen Scheiden, an das den
alten Musiker die wehmütige Weise mahnt, die er selbst vor Jahren fand:
„Brüderlein sein — einmal muß geschieden sein.“ Man erkennt, daß
dieses Bühnenstücklein nicht mit starker und spannender Handlung den Zu¬
schauer fesselt; es ist nichts als ein Genrebildchen, das durch Frische der
Farben und den Zauber der Stimmung, durch eine geschickte Mischung
von altväterischem Humor und schlichter Gefühlsinnigkeit und dabei durch
den Lawendelduft einer fernen Zeit, an die wir doch noch mit zarten Ge¬
*) Klavierauszug mit Text im Verlage von Josef Weinberger,
Leipzig. (Preis 5 M.)

mütsfäden u gebunden fühlen, unsere Sinne umstrickt. Leo Falls Musik
ist dem Chat kter dieser Alt=Wiener Idylle feinfühlig angepaßt; seine, aller¬
dings ein# nig zu leicht ins Ohr eingehende Melodik ist, ohne allzu tief
beseelt zu sein, doch von einer ungesuchten Volkstümlichkeit und einer
Empfindungswärme, denen sich der Hörer gerne hingibt. Das liebens¬
würdige Bühnenwerk, dessen musikalische Reize man sich hie und da noch
subtiger herausgearbeitet denken kann, erregte, obwohl — oder weil? —
es so wunderbar abstach von den Pikanterien und Blödheiten, mit denen an
dieser Stätte die Operette das verehrliche Publikum so häufig in lautes
Entzücken versetzt, innigstes Wohlgefallen, und den Darstellern Fräulein
[Fidler, die als grauhaarige wie als verjüngte Frau Kapellmeisterin
charmant war, Herr Brunner, der einen würdigen Wiener Philemon
zu dieser Baucis abgab, und Frl. Wandrey, die aus der Puppenhülle der
alten Hashälterin zu einem reizenden „Jugend“=Schmetterling sich be¬
frei## ihr Lied „auf dem Violon von Gold“ hingebend, wenn auch ein
wenig hart, sang, wurde freudiger Beifall gespendet. Das hübsche Duett
des Ehepaares „Frau Drechsler, Herr Drechsler, ich bitt' um die Ehr?“
mußte zum Teil wiederholt werden. Auf dies Ehe=Idyll folgte die Liebes¬
tragödie, für die Arthur Schnitzler das Motiv aus seinem, im Jahre 1900
im Lobe=Theater unter der Regie des gegenwärtigen Intendanten unseres
Stadt=Theaters zur Erstaufführung gelangten Renaissance=Dramas „Der
Schleier der Beatrice“ entlehnt hat. Schnitzler läßt dies pantomimische
Liebesdrama — wie schon die Aenderung des Titels verrät — zwischen den
bekannten Figuren der commedia dell' arte, die er kühn ins Alt=Wiener
Milieu versetzt hat, sich abspielen. Am Tage der Hochzeit, den Myrthen¬
kranz im Haar, im Schmucke des bräutlichen Schleiers, eilt Pieretie, die
davor zurückschaudert, sich dem düsteren Arlechino zu eigen zu geben, zu
Pierrot, ein letztes Stündlein Glück auszukosten und dann mit dem Ge¬
liebten zu sterben. Vergebens beschwört Pierrot die verzweifelte Braut, indem
er ihr die Bilder eines glücklichen Lebens an seiner Seite ausmalt, mit
ihm zu fliehen. Pierette sieht keinen Ausweg als den Tod. Beide ge¬
nießen noch einen Augenblick der Seligkeit, den düsteren Reiz eines von
krampfhafter Lustigkeit gewürzten Mahles, dessen letzte Gabe der Giftbecher
sein soll. Wiederholt zögern sie die schreckliche Entscheidung, maus; endlich
nimmt Pierrot, sich ermannend, den tödlichen Trank, den##te, vor der
Vernichtung zurückschaudernd, verschmäht. Von Entsetzen agt, eilt sie
dann von der Leiche des Geliebten, den ihr, den Todesentsch #ß verhöhnen¬
der Lebenswille verraten, zu dem in eifersüchtiger Raserei ihrer harrenden.
Arlechino, dem sie Rechenschaft über ihre Abwesenheit abregen soll, und
dessen Wut sie durch alle Schmeicheleien weiblicher Koketterie und alle
Mittel einer sinnlich aufreizenden Betörungskunst zu beschwichtigen sucht.
Da erscheint der von geheimer Angst Durchbebten die gespenstische Gestalt