II, Theaterstücke 23, Der Schleier der Pierrette, Seite 309

*) Klavierauszug mit Text im Verlage von Josef Weinberger,
Leipzig. (Preis 5 M.)
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mütsfäden u gebunden fühlen, unsere Sinne umstrickt. Leo Falls Musik
ist dem Char kter dieser Alt=Wiener Idylle seinfühlig angepaßi; seine, aller¬
dings ein# nig zu leicht ins Ohr eingehende Melodik ist, ohne allzu tief
beseelt zu sein, doch von einer ungesuchten Volkstümlichkeit und einer
Empfindungswärme, denen sich der Hörer gerne hingibt. Das liebens¬
würdige Bühnenwerk, dessen musikalische Reize man sich hie und da noch
subtiger heerausgearbeitet denken kann, erregte, obwohl — oder weil? —
es so wumderbar abstach von den Pikanterien und Blödheiten, mit denen an
dieser Stätte die Operette das verehrliche Publikum so häufig in lautes
Entzücken versetzt, innigstes Wohlgefallen, und den Darstellern Fräulein
Fidler die als grauhaarige wie als verjüngte Frau Kapellmeisterin
charmant war, Herr Brunner, der einen würdigen Wiener Philemon
zu dieser Baucis abgab, und Frl. Wandrey, die aus der Puppenhülle der
alten Haashälterin zu einem reizenden „Jugend“=Schmetterling sich be¬
frei##nd ihr Lied „auf dem Violon von Gold“ hingebend, wenn auch ein
wenig hart, sang, wurde freudiger Beifall gespendet. Das hübsche Duett
des Ehepaares „Frau Drechsler, Herr Drechsler, ich bitt' um die Ehr'“
mußte zum Teil wiederholt werden. Auf dies Ehe=Idyll folgte die Liebes¬
tragödie, für die Arthur Schnitzler das Motiv aus seinem, im Jahre 1900
im Lobe=Theater unter der Regie des gegenwärtigen Intendanten unseres
Stadt=Theaters zur Erstaufführung gelangten Renaissance=Dramas „Der
Schleier der Beatrice“ entlehnt hat. Schnitzler läßt dies pantomimische
Liebesdramu — wie schon die Aenderung des Titels verrät — zwischen den
bekannten Figuren der commedia dell' arte, die er kühn ins Alt=Wiener
Milieu versetzt hat, sich abspielen. Am Tage der Hochzeit, den Myrthen¬
kranz im Haar, im Schmucke des bräutlichen Schleiers, eilt Pieretie, die
davor zurückschaudert, sich dem düsteren Arlechino zu eigen zu geben. zu
Pierrot, ein letztes Stündlein Glück auszukosten und dann mit dem Ge¬
liebten zu sterben. Vergebens beschwört Pierrot die verzweifelte Braut, indem
er ihr die Bilder eines glücklichen Lebens an seiner Seite ausmalt, mit
ihm zu fliehen. Pierette sieht keinen Ausweg als den Tod. Beide ge¬
nießen noch einen Augenblick der Seligkeit, den düsteren Reiz eines von
krampfhafter Lustigkeit gewürzten Mahles, dessen letzte Gabe der Giftbecher
sein soll. Wiederholt zögern sie die schreckliche Entscheidung, maus; endlich
nimmt Pierrot, sich ermannend, den tödlichen Trank, den# mte, vor der
Vernichtung zurückschaudernd, verschmäht. Von Entsetzen agt, eilt sie
dann von der Leiche des Geliebten, den ihr, den Todesentsa, 76 verhöhnen¬
der Lebenswille verraten, zu dem in eifersüchtiger Raserei iyrer harrenden.
Arlechino, dem sie Rechenschaft über ihre Abwesenheit abiegen soll, und
dessen Wut sie durch alle Schmeicheleien weiblicher Koketterie und alle
Mittel einer sinnlich aufreizenden Betörungskunst zu beschwichtigen sucht.
Da erscheint der von geheimer Angst Durchbebten die gespenstische Gestalt
des toten Pierrot; Pierettens Entsetzen weckt von neuem den Verdacht
Arlechinos; er vermißt den Schleier der Braut; und diese erblickt wieder
die Erscheinung des Geliebten, der ihr den vergessenen Schleier entgegenhält.
In grauenvollem Banne fühlt sich die Verstörte dem Gespenste nachgezogen.
Arlechino folgt ihr; in der Wohnung Pierrots sieht er die Reste eines
Mahles, findet er den Schleier der Pierette; dann entdeckt er die Leiche
Pierrots. Mit rachgierigem Zynismus gibt er dem Entseelten die Haltung
eines Lebenden, dem er in teuflischem Hohne zutrinkt. Vor dem Rasen¬
den, der durch rohe Minne die Stätte der Trauer entweihen will, flüchtel
Pierette in den Schutz des Toten. Als Arlechino, seine Rache zu krönen,
die verstoßene Braut in der schauerlichen Gesellschaft des toten
Pierrot zurückläßt, verfällt die Unglückliche dem Wahnsinn,
in irrer Verzückung durchraft sie tanzend das Gemach, bis
sie entseelt an der Leiche Pierrots niederstürzt. Die Musik Ernst
## tragischen
von Dohnänyis**), die sofort mit markantem Mott
Vorgänge
Grundton des Werkes bezeichnet, löst ihre Aufgabe, die äl.
und die seelischen Stimmungen und Wandlungen, an Stelle es fehlenden
Wortes zu illustrieren und darzustellen, mit bemerkenswertem Geschick, wenn
auch nicht immer die wünschenswerte Nüanzierung und Plastik dis Aus¬
druckes erreicht wird. Aber seine Musik hat dramatische Gewalt und eine
Eigenart, die sich nur selten, wie bei dem vom ersten zum zweiten Bilde
überleitenden Walzer verleugnet. Die Darsteller gaben sich redlich Mühe,
die beabsichtigte tragisch=grausige Wirkung zu erreichen; insbesondere bot
Frl. Zulka eine außerordentliche und erschütternde Leistung, aber auch
Herr Brunnar und Herr Grünwald verkörperten die Gestalten des
Pierrot und Arlechtno mit starker Wirkung; in kleineren Rollen betätigten
sich u. a. die Herren Stößel, Brandl, Wendler und Frau Lanz.
Das Orchester unter Herrn Weiner wurde, von einigen Unausgeglichen=
heiten abgesehen, den hier gestellten Anforderungen in anerkennenswertot
Weise gerecht. Die Inszenierung hatte Herr Dr. Hans Kaufmann
mit Sorgfalt besorgt; nur das Problem der Geistererscheinung war nicht
in einer voll befriedigenden Weise gelöst worden.
**) Klavierauszug im Verlage von Ludwig Doblinger (Bernhard
Herpmansky), Wien und Leipzig. (Preis 10 Mark.)
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