8
23. Der schleiender Pierrette
ADOLF SCHUSTERMANN
ZEITUNGSNACHRICHTEN-BUREAU
BERLIN SO 16, RUNGESTR. 22-24.
Zeitung: Germania
Abend-Ausgabe
daene: Berly, SEP 1922
Datum:
Kammerspiele.
Das russische Theater „Kikimora“ absolviert hier ein Gast¬
*spiel mit Arthur Schnitzlers „Schleier der Pierette“,
der vord dem Krieg öfimals gegebenen Pantomime. Für eine abend¬
füllende Vorstellung ist dieser wortlose, nur auf die Geberde gestellte
Extkakt seiner Renaissance=Tragödie „Der Schleier der Beatrice“
doch zu dünn. Pierette flüchtet vom Hochzeitsmahl zu ihrem ge¬
liebten Pierrot, der sich aus Verzweiflung tötet. Sie, von Grauen
übermannt, läuft ohne ihren Brautschleier zu ihrem Gatten zurück
und wird von dem betrogenen Arlechino hohnlachend zu dem Toten
eingesperrt, bei dem sie entseelt niedersinkt. Der zweite Akt mit seiner
lünten Augenfreude — die Dekorationen und Kostümentwürfe von
Matalie Gontscharowa sind in ihrer Eigenart wohl zu loben
7— mit seiner geschickten Regie (A. Tschabrow) und der Anmut
der über Stufen und Treppen voltigierenden Tänzer und graziösen
Tänzerinnen reißt, wie man zu sagen pflegt, die ganze Geschichte
heraus. Starke tänzerische Ausdrucksmöglichkeiten zeigt auch der so
gut disziplinierte Körper von Sam. Vermeil (zugleich künstlerischer
Oberleiter des Ensembles) nicht, obwohl ihm zarte und sentimentale
Stimmungen noch am besten zu liegen scheinen. Arlechino
(A. Tschabrow) ist in seiner Art leider ebenso seelenlos wie die
matte Süßlichkeit der Pierette (Sofia Fedorowa II). Diese
russische Tanzkunst enttäuscht. Oder ist es, weil man gelerni hat,
den Begriff mit den Triumphen der Pawlowna zu identifizieren?
a.
gsoas ueseverkhbnden
e#desret suursene roneaussenmerrane
BERLIN SO 16. RUNGESTRASSE 22-24
Der10s
Die große nationale Tageszeitung
S SERS2
„Der Schleier der Dieretie.“
Kammerspiele.
In den Kammerspielen führte eine russische
Gesellschaft die Schnitzlersche Pantomime „Der
Schleier der Vierert##m Muftk von Ernst von
Dohnanyi auf.— Vor etwa 10 Jahren ist das
interessante Stück bereits hier im Deutschen
Opernhause gegeben worden und erzielte damals
infolge der sehr feinen charakteristischen Musik und
der ausgezeichneten Darstellung einen bedeutenden
Erfolg. Diese russische Vorstellung kann nur als
Karikatur bezeichnet werden. Mittelmäßige So¬
listen, ein ziemlich mangelhaftes Orchester,
geschmacklose, kindliche Dekorationen und unzu¬
längliche Regie, alles kam zusammen, um einen
höchst unerfreulichen Eindruck hervorzubringen.
Mehr über die Angelegenheit zu reden, lohnt nicht
c. k.
die Mühe.
box 28/1
22
Böersen Zeitung
Berlin
4 3 SEP.1922
Kammerspiele.
Gastspiele des Theaters „Kikimora“
„Der Schleier der Pierette“, Pautomime von Schnitzler.
Das Ureigene der Pantomime ist Rhythmus. Der mensch¬
liche Körper im Nacheinander der rhythmischen Bewegungen
als Ausdrucksgebärde. Statt der Wort=, Musikbegleitung als ver¬
stärkendes sinnliches Moment. Beides zusammen eine Sym¬
phonie von Sinnlichkeit und Leidenschaft, denn trotz der Zehn¬
tausenden von Kombinationsmöglichkeiten der Bewegungen
sämtlicher Körperglieder sind es nur die Affekte, die sich
uns mitteilen, nur die Extase, die uns berauscht.
sie in
Schnitzlers „Schleier der Pierette“ gibt
bürgerlicher Fassung. Pierrot sehnt sich in seiner Dach¬
kammer nach seiner Pierette. Sie kommt, aber im Braut¬
schleier. (Sie ist Harlelins Braut.) Die Beiden finden
keinen Ausweg als den gemeinsamen Tod. Pierrot trinkt
das Gift, sieht das Zandern der Pierette und schlägt ihr
den Becher aus der Hand. Sie flieht vom Toten nach Hause
zum Fest, Pierrots Bild verfolgt sie. Sie stürmt vom Fest
in die Dachkammer, vom Harlekin gefolgt. Seine Wut, dann
ssein Hohn. Er schließt sie mit dem Toten ein. Ihre Angst,
ihre Verzweiflung ihr Tod. Alles abgeschwächt, gedämpft
durch das Biedermeier=Milien. Ernst von Dohnanyi schrieb
dazu eine melodische, sinnliche Musik.
Die Aufführung hatte mit verschiedenen Widerwärtig¬
keiten zu kämpfen. Die Kammerspiele sind zu intim, sie
geben alles zu deutlich, zu nahe. Die Illusion, das
stellten
Charme — für alles Biedermeier unentbehrlich —
sich nicht ein. Das Improvisierte der Dekorationen, die
vielfach mißglückten Kostüme machten sich aufdringlich be¬
merkbar. Dazu kam eine Unsicherheit in den Masken
und — auch im Tanz. Nur ein einziger Schauspieler, in
einer Nebenrolle, G. Waldow, hat Rhythmus, ist
Tänzer in jeder Bewegung und Mimiker in jeder Ge¬
scheint
bärde. Die Pierette, Sofia Fedorowna II,
Da
nur auf das Tragische eingestellt zu sein.
werden ihre Glieder lebendig, ihre Bewegungen durchseelt,
ihr Spiel Kunst. Die Schauspielerin in ihr drängt die
Tänzerin vollständig in den Hintergrund. Samuel Ver¬
meil als Pierrot gab nicht mehr als einige gute
Stellungen, und der Arlechino Woloschins vergriff sich
sowohl in der Maske (eines Torero) wie im Spiel, da er
eine einzige Wutgebärde darstellte, ohne Steigerung, ohne
Nancen. Das Haus, die Premiere mögen wohl einen
Teil der Schuld tragen, die Ausstattung und die Regie
können doch nicht freigesprochen werden.
M. Ch.
23. Der schleiender Pierrette
ADOLF SCHUSTERMANN
ZEITUNGSNACHRICHTEN-BUREAU
BERLIN SO 16, RUNGESTR. 22-24.
Zeitung: Germania
Abend-Ausgabe
daene: Berly, SEP 1922
Datum:
Kammerspiele.
Das russische Theater „Kikimora“ absolviert hier ein Gast¬
*spiel mit Arthur Schnitzlers „Schleier der Pierette“,
der vord dem Krieg öfimals gegebenen Pantomime. Für eine abend¬
füllende Vorstellung ist dieser wortlose, nur auf die Geberde gestellte
Extkakt seiner Renaissance=Tragödie „Der Schleier der Beatrice“
doch zu dünn. Pierette flüchtet vom Hochzeitsmahl zu ihrem ge¬
liebten Pierrot, der sich aus Verzweiflung tötet. Sie, von Grauen
übermannt, läuft ohne ihren Brautschleier zu ihrem Gatten zurück
und wird von dem betrogenen Arlechino hohnlachend zu dem Toten
eingesperrt, bei dem sie entseelt niedersinkt. Der zweite Akt mit seiner
lünten Augenfreude — die Dekorationen und Kostümentwürfe von
Matalie Gontscharowa sind in ihrer Eigenart wohl zu loben
7— mit seiner geschickten Regie (A. Tschabrow) und der Anmut
der über Stufen und Treppen voltigierenden Tänzer und graziösen
Tänzerinnen reißt, wie man zu sagen pflegt, die ganze Geschichte
heraus. Starke tänzerische Ausdrucksmöglichkeiten zeigt auch der so
gut disziplinierte Körper von Sam. Vermeil (zugleich künstlerischer
Oberleiter des Ensembles) nicht, obwohl ihm zarte und sentimentale
Stimmungen noch am besten zu liegen scheinen. Arlechino
(A. Tschabrow) ist in seiner Art leider ebenso seelenlos wie die
matte Süßlichkeit der Pierette (Sofia Fedorowa II). Diese
russische Tanzkunst enttäuscht. Oder ist es, weil man gelerni hat,
den Begriff mit den Triumphen der Pawlowna zu identifizieren?
a.
gsoas ueseverkhbnden
e#desret suursene roneaussenmerrane
BERLIN SO 16. RUNGESTRASSE 22-24
Der10s
Die große nationale Tageszeitung
S SERS2
„Der Schleier der Dieretie.“
Kammerspiele.
In den Kammerspielen führte eine russische
Gesellschaft die Schnitzlersche Pantomime „Der
Schleier der Vierert##m Muftk von Ernst von
Dohnanyi auf.— Vor etwa 10 Jahren ist das
interessante Stück bereits hier im Deutschen
Opernhause gegeben worden und erzielte damals
infolge der sehr feinen charakteristischen Musik und
der ausgezeichneten Darstellung einen bedeutenden
Erfolg. Diese russische Vorstellung kann nur als
Karikatur bezeichnet werden. Mittelmäßige So¬
listen, ein ziemlich mangelhaftes Orchester,
geschmacklose, kindliche Dekorationen und unzu¬
längliche Regie, alles kam zusammen, um einen
höchst unerfreulichen Eindruck hervorzubringen.
Mehr über die Angelegenheit zu reden, lohnt nicht
c. k.
die Mühe.
box 28/1
22
Böersen Zeitung
Berlin
4 3 SEP.1922
Kammerspiele.
Gastspiele des Theaters „Kikimora“
„Der Schleier der Pierette“, Pautomime von Schnitzler.
Das Ureigene der Pantomime ist Rhythmus. Der mensch¬
liche Körper im Nacheinander der rhythmischen Bewegungen
als Ausdrucksgebärde. Statt der Wort=, Musikbegleitung als ver¬
stärkendes sinnliches Moment. Beides zusammen eine Sym¬
phonie von Sinnlichkeit und Leidenschaft, denn trotz der Zehn¬
tausenden von Kombinationsmöglichkeiten der Bewegungen
sämtlicher Körperglieder sind es nur die Affekte, die sich
uns mitteilen, nur die Extase, die uns berauscht.
sie in
Schnitzlers „Schleier der Pierette“ gibt
bürgerlicher Fassung. Pierrot sehnt sich in seiner Dach¬
kammer nach seiner Pierette. Sie kommt, aber im Braut¬
schleier. (Sie ist Harlelins Braut.) Die Beiden finden
keinen Ausweg als den gemeinsamen Tod. Pierrot trinkt
das Gift, sieht das Zandern der Pierette und schlägt ihr
den Becher aus der Hand. Sie flieht vom Toten nach Hause
zum Fest, Pierrots Bild verfolgt sie. Sie stürmt vom Fest
in die Dachkammer, vom Harlekin gefolgt. Seine Wut, dann
ssein Hohn. Er schließt sie mit dem Toten ein. Ihre Angst,
ihre Verzweiflung ihr Tod. Alles abgeschwächt, gedämpft
durch das Biedermeier=Milien. Ernst von Dohnanyi schrieb
dazu eine melodische, sinnliche Musik.
Die Aufführung hatte mit verschiedenen Widerwärtig¬
keiten zu kämpfen. Die Kammerspiele sind zu intim, sie
geben alles zu deutlich, zu nahe. Die Illusion, das
stellten
Charme — für alles Biedermeier unentbehrlich —
sich nicht ein. Das Improvisierte der Dekorationen, die
vielfach mißglückten Kostüme machten sich aufdringlich be¬
merkbar. Dazu kam eine Unsicherheit in den Masken
und — auch im Tanz. Nur ein einziger Schauspieler, in
einer Nebenrolle, G. Waldow, hat Rhythmus, ist
Tänzer in jeder Bewegung und Mimiker in jeder Ge¬
scheint
bärde. Die Pierette, Sofia Fedorowna II,
Da
nur auf das Tragische eingestellt zu sein.
werden ihre Glieder lebendig, ihre Bewegungen durchseelt,
ihr Spiel Kunst. Die Schauspielerin in ihr drängt die
Tänzerin vollständig in den Hintergrund. Samuel Ver¬
meil als Pierrot gab nicht mehr als einige gute
Stellungen, und der Arlechino Woloschins vergriff sich
sowohl in der Maske (eines Torero) wie im Spiel, da er
eine einzige Wutgebärde darstellte, ohne Steigerung, ohne
Nancen. Das Haus, die Premiere mögen wohl einen
Teil der Schuld tragen, die Ausstattung und die Regie
können doch nicht freigesprochen werden.
M. Ch.