II, Theaterstücke 23, Der Schleier der Pierrette, Seite 324

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DerschielenderTerreite
ADOLF SCHUSTERMANN
ZEITUNGSNACHRICHTEN-BUREAU
BERLIN SO. 16, RUNGESTR. 22-24.
Zektang: Berliner Morgenpost
„ —
Adyesse: Berlin
2 4 SE P 92:
Datum:

Gastspiel „Kilimora“.
Kikimora — das ist russisch und heißt in
unser mitteleuropäisches Deutsch übertragen
Waldhexe. So betitelt sich eine russische Tänzer¬
truppe aus Moskau, die seit Freitag in den
Kammerspielen des Deutschen Theaters
gastiert. Zum Gegenstand des Gastspiels ist die
Pantomime „Schleier der Pierette“ nach
Schnitzlers gleichnamigem Drama mit Doh¬
nanhes Müstk erhoben worden. Man kennt
wohl noch von weit zurückliegender Berliner
Aufführung die Fabel: Pierrette liebt außer
ihrem Bräutigam Harlekin noch Pierrot. Als
dieser in seinem Atelier den Brautschleier Pier¬
rettes entdeckt, beschließt er ihrer beider Gisttod,
aber Pierrette läßt ihm den Vortritt und über¬
legt sich nachher. Flieht vor dem Toten zu
ihrem Tanzfest, dort ist wilde Vision. Harlekin
verfolgt sie, — zurück ins Atelier, schließt sie
mit dem Toten ein, und dort stirbt die Irr¬
gewordene an der Leiche des Liebsten. Früher
war diese Variation des uralten Bajazzo=Motivs,
entwachsen der Stegreifkomödie, der commedia
dell' arté, in einem Akt zusammengezogen und
könnte so, von faszinierenden Pantomimikern
dargestellt, wohl wirken.
Doch die Kikimora=Künstler strecken das
kleine große Schicksal der beiden gleich auf drei
Akte, und diese durch lange Pausen multipli¬
zierte Dehnung vertrüge „Pierrettes Schleier“
nicht, selbst wenn bedeutendere Solisten als hier
zur Verfügung ständen. Dr. Vermeil, der
geistige Leiter und Regisseur der Tournée, zwar
ist ein geschmeidiger und in manchen Momenten
höchst bildhaft im Rahmen wirkender Tänzer,



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der Horlekin Tschabrows aber speit mehr!
Brutalität in seinen Gesten und Stampftänzen
aus, als er dämonisch wirkt. Die Feodo¬
rowa II., also es gibt noch eine erste Feodo¬
rowa in Rußland, hat blasse Anmut der Erschei¬
nung, huldigt aber einem krassen Naturalismus,
wie er mit jedweder tänzerischen Grazie unver¬
einbar ist. Sehr schön aber ist das zweite Bild,
das geschickt über Treppen und Ballsaal gelenkte
Treiben der Masken — auch in Farben und
Lichtfülle bester künstlerischer Einfälle voll. Es
ist, mit Vermeil, ein Verdienst der russischen
Malerin Gotscharowa. — Die Musik Doh¬
nänyis wirkt heute reichlich abgestanden, sie hat
einige gute, im Grotesken an Strawinsky mah¬
der
nende (aber ach wie zahme!) Momente,
Dirigent Fotter, scheinbar ein Musiker mit
starkem Rhythmus, kann aus dem Zufalls¬
orchester naturgemäß wenig Tonschönheit und
Schwung holen. So litt diese Première an
mancherlei Unfertigkeit und prinzipiellen Irr¬
tümern. Schade um die verschiedenen mitwir¬
nden Kräfte, mit welchen sicher noch Stärkeres
Felbar märel
box 28/1
diekoljge des Kongeres“.“
ie des
Abends aus
.. ##.. Hofrapellmeister Fritz
[Reiner auf einen nicht zu schwer wiegenden Unter¬
haltungsion #estimmt, ohne daß aber deshalb der Boden.
Ms see e
gehobener Kunst verlassen worden wäre. Man konnte sich
zunächst an der temperamentvollen, feinen Musik einer
Arlesienne=Suite von Bizet erfreuen, die mit scharfer
Herausarbeitung ihrer Gegensätze zu Gehör kam. In
prächtiger Steigerung erstand auch die Sakuntala=Ouver¬
türe von Goldmark, deren einst so bewunderte Farben¬
pracht freilich schon etwas verblaßt anmutet, die aber trotz¬
dem immer noch als effektvolle, gut klingende Musik
passieren kann. Solistin des Abends war die hier schon
wiederholt bewunderte Berliner Kammersängerin Cläre
Dux. Sie sang bekannte Lieder von Mahle und Strauß,
außerdem zwei Mozart=Arien. Was sie singt, ist im
übrigen beinahe gleich, denn die Wirkung, die sie ausübt,
stützt sich nicht auf stark persönliche Vortragskunst, sondern
auf die wundervolle, ideal kultivierte Stimme, die auch
diesmal wieder trotz einiger belegter Töne den gewohnten
Triumph feierte. — Nach der großen Pause folgte dann
eine Neueinstudierung von Schnitzler=Dohnanyis Panto¬
mime „Der Schleier d
rVierettel.Seit Schuch
dem Werk im Januar 1910 zü erfolgreicher Uraufführung
verholfen hat, ist es öfters gern gehört und gesehen
worden. Schnitzlers berühmtes Renaissance=Drama
bekommt ja freih#nd dafür ist man vielleicht heute
empfindlicher als früher — in solcher Fassung als panto¬
mimischer „Skeich“ ein wenig einen Stich ins kinomäßig
Sensationelle. Trotzdem liegt über dem kraß tragisch ge¬
wendeten Pieretten=Abenteuer starke theatermäßige Stim¬
mung. Und diese wird durch Dohnanyis Musik wir¬
kungsvoll unterstrichen. Zwar steigt die Musik nicht
sonderlich in die Tiese, pendelt auch in ihrem Stil bedenk¬
lich eklektisch von der „Walküre“ zum Wiener Walzer.
Aber Schwung und farbige Bildkraft sind ihr in hohem
Maße eigen, und darauf kommt es in ihrem Falle doch
vor allem an. Reiner und sein Orchester brachten sie mit
Klangpracht und rhythmischer Schärfe zur Geltung. Auch
das von Trojanowski geleitete szenische Spiel wickelte
sich in geschmackvollem Rahmen lebendig ab. Die drei
Hauptrollen hatten früher Soot, Trede und Irma Ter¬
vani inne. Diesmal trugen Tauber als tragischer
Pierrot und Staegemann als unheimlich dämonischer
Harlekin den Eindruck. Frieda Heß, als Tänzerin
von reizvollster Grazie wie immer, vermochte rein dar¬
stellerisch nicht durchweg zu überzeugen. Im Zuschauer¬
raum begleitete man den Abend, für den auch ein künst¬
lerisch ausgestattetes Programmbuch gestiftet worden war,
von Anfang bis zu Ende mit lautestem Beifall. □ E. 8.
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